Zimmer Nr. 10
selbst stand.
»Und wie war es in ihrem Job?«
»Wie meinen Sie das, Herr Kommissar?« Ihre Stimme klang monoton, wenn sie etwas sagte. Der Mann, Mario Ney, sagte überhaupt nichts.
»Inspektor«, korrigierte Halders. Viele Jahre hatte er gedacht, einmal Kommissar zu werden, aber das lag jetzt auch hinter ihm. Er hatte nicht das Zeug zum Chef. Er war ja nicht mal mit sich selbst zu Kompromissen bereit. »Ich meine ihre Kollegen«, erklärte er.
»Mir ist … nie was zu Ohren gekommen.«
»Was denn zu Ohren gekommen?«
»Dass sie mit jemandem am Arbeitsplatz verfeindet gewesen wäre.«
»Hat ihr der Job Spaß gemacht?«
»Ich hab nie was anderes gehört«, antwortete Elisabeth Ney.
»Hat ihr die Arbeit an sich gefallen?«
»Sie hat nie was anderes gesagt.«
Keine Feinde, keine Konflikte, keine Sorgen auf der Arbeit. Ein einzigartiger Mensch, dachte Halders. Aber vielleicht hatte sie nur nicht darüber gesprochen.
Er betrachtete Paula Neys Porträt. Es stand mitten auf dem Küchentisch. Elisabeth Ney hatte es dort aufgestellt, bevor sie sich setzten. Paula sollte dabei sein. Bei diesem Gespräch ging es um sie.
Der Fotograf hatte auf dem Bild den Beginn eines Lächelns in Schwarzweiß für die Ewigkeit eingefangen, vielleicht nicht die Andeutung, sondern das Ende. Halders hatte noch nie verstanden, warum Porträtfotografen so besessen waren vom Lächeln. Kinder, die mit Spielsachen zum Lachen gebracht wurden. Erwachsene, die an etwas Nettes denken oder »Cheeese« sagen sollten. Halders schaffte es genauso gut mit »Schiiiet«. Das Lächeln. Sahen die Leute besser aus durch ein bestelltes Lächeln? Sah die Zukunft besser aus?
Paula Ney war auf eine konservative Art hübsch. Mit ihrer Frisur ging sie kein Risiko ein. In Gedanken war sie irgendwo anders, möglicherweise bei der Wand oberhalb des Fotografen, oder in weiter Ferne. Paula Ney hatte hübsche, regelmäßige Züge auf diesem Foto, ein Gesicht, dem nichts fehlte durch das unfertige Lächeln, und Halders auf dem harten Küchenstuhl dachte unwillkürlich, dass Paula Ney nicht gerade glücklich gewesen zu sein schien.
»Wie viele Jahre hat sie bei Telia gearbeitet?« Halders wandte sich an Mario Ney, aber seine Frau antwortete an seiner Stelle.
»Neun Jahre. Früher hat es ja nicht Telia geheißen.«
»Ein Jahr nach dem Gymnasium …«, sagte Halders. »Was hat sie in dem Jahr gemacht?«
»Nichts … Besonderes«, antwortete Elisabeth Ney.
»Studium? Job?«
»Sie ist gereist.«
»Gereist? Wohin?«
»Sie hatte kein … besonderes Ziel.«
Jedes Ziel ist ja wohl etwas Besonderes, dachte Halders. Erst recht, wenn man beschließt, dorthin zu fahren.
»Schweden? Ausland?« Er beugte sich über den Küchentisch vor. Das Wachstuch war gelb und blau. »Es ist wichtig, dass Sie sich erinnern. Bei einer Ermittlung kann alles wichtig sein. Eine Reise könnte …«
»Wir wissen es nicht genau«, unterbrach ihn Mario Ney. Er ergriff zum ersten Mal das Wort. Nicht einmal im Flur bei der Begrüßung hatte er etwas gesagt. Auch jetzt sah er Halders nicht direkt an, er blickte nach oben, auf die Küchenwand, weit dahinter, wie durch sie hindurch. »Sie hat nicht viel erzählt.«
»Mit neunzehn war sie ein Jahr verreist und hat nicht erzählt, wo sie war?«, fragte Halders. »Haben Sie sich keine Sorgen gemacht?«
Er für seinen Teil hätte die Polizei alarmiert, wenn es um Magda gegangen wäre. Einen anderen Polizisten.
»Es … war kein ganzes Jahr«, sagte Elisabeth Ney auf ihre bedächtige Art. »Und sie hat Karten geschrieben. Wir wussten ja, dass sie unterwegs war.« Sie schaute ihren Mann an.
»Wir haben sie doch zum Bahnhof gebracht.«
»Wohin war sie unterwegs?«
»Sie hatte eine Fahrkarte nach Kopenhagen.«
»Ist sie je dort angekommen?«
Mario Ney zuckte leicht mit den Schultern.
»Von wo hat sie die erste Karte geschrieben?«
»Mailand.«
Halders versuchte, Mario Neys Blick einzufangen, aber der entglitt ihm. Der Mann war in Italien geboren. Es war ihm anzusehen, dass er aus einem anderen Teil Europas stammte. Oder der Welt. Dunkler, die Augen, das Kinn. Er war fast kahl, ein graumelierter Kranz um die Ohren.
Halders’ Haare waren auch weg; die nicht ausgegangen waren, hatte er abrasiert. »Suchte sie nach ihren Wurzeln?«
»Ihre Wurzeln sind hier«, sagte Mario Ney. Seine Stimme klang unerwartet hart.
Für ihn ist das kein bella Italia, dachte Halders. »Aber sie ist nach Italien gefahren«, sagte er beharrlich.
»Sie hat auch
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