Zimmer Nr. 10
Befreiung von der Normalität.
Ellen Börge war von der Normalität befreit worden. Oder hatte sich selbst befreit. Sie war weggegangen, um eine Zeitschrift zu kaufen, und nie zurückgekehrt. So war es tatsächlich gewesen, die Wirklichkeit war wie im Roman: Ellen war losgegangen, um eine Zeitschrift zu kaufen, eine so genannte Frauenzeitschrift. Winter hatte zunächst vermutet, es handle sich um »Femina«, da nur ein dünner Stapel »Feminas« auf dem Sofatisch gelegen hatte. Ihr Mann, Christer Börge, hatte das nicht im Blick. »Ach, ›Femina‹? Tja, ich weiß nicht. Sie hat nichts gesagt.«
Ellen Börge war nie in dem Supermarkt ihres Viertels angekommen, wo sie ihre Zeitschriften und auch alles andere immer zu kaufen pflegte. Sie hatten insofern Glück gehabt, als die beiden Angestellten, die an jenem Nachmittag arbeiteten, Ellen Börge kannten und sich nach eigener Aussage erinnert hätten, wenn sie im Laden gewesen wäre.
Christer Börge hatte fünf Stunden gewartet, ehe er die Polizei anrief. Er wurde erst mit dem lokalen Revier 3 verbunden, wie es damals hieß, und als Ellen auch nach vierundzwanzig Stunden noch nicht wieder aufgetaucht war, hatte man die Fahndung eingeschaltet, genauer gesagt, die Schutzpolizei, die sich mit Fällen von Vermissten beschäftigte. Dem Grünschnabel Erik Winter war der Fall übertragen worden, dem Noch-feucht-hinter-den-Ohren-Winter. Er hatte ein Verbrechen vermutet, schließlich war es sein Job, Verbrechen zu vermuten, es war auch seine Natur, Verbrechen zu vermuten, und er hatte vor dem Sofatisch mit den Zeitschriften gesessen und dem einunddreißigjährigen Ehemann Fragen nach seiner neunundzwanzigjährigen Frau Ellen Börge gestellt. Sie waren alle drei etwa gleichaltrig, aber Winter hatte sich nicht zugehörig gefühlt, er kannte Ellen Börge nicht, und Christer Börge hatte nicht gerade gejubelt, als Winter aufgetaucht war. Christer Börge war nervös gewesen, aber Winter hatte nicht herausgefunden, welche Art Nervosität das war. Eine solche Menschenkenntnis setzte jahrelange Erfahrung als Verhörleiter voraus. Und Menschenkenntnis lernte man nicht an der Polizeihochschule. Man musste nur jahrelang warten, seine Fragen wieder und wieder stellen, in den Gesichtern lesen, den Worten lauschen und gleichzeitig versuchen, den Inhalt zu verstehen. Winter hatte schon damals, zu Beginn der Zeitrechnung, 1987, gewusst, dass man wie in geschriebenen Texten zwischen den Zeilen lesen können musste. Zwischen den Zeilen konnte sich ein Abgrund auftun.
»Sie haben fünf Stunden gewartet, bevor Sie sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt haben«, hatte er zu Christer Börge gesagt. Das war keine Frage gewesen.
»Ja, und?«
Börge war auf dem Sofa gegenüber herumgerutscht. Winter hatte auf einem Sessel gesessen, der wie das Sofa mit einer Art weißem Plüsch bezogen war, und er hatte gedacht, dass die Möbel allzu … erwachsen wirkten für Leute in seinem Alter. Die ganze Wohnung wirkte … etabliert, wie von einem Paar in fortgeschrittenem Alter bewohnt, aber da verließ er sich nicht auf sein Urteil; seine eigene Wohnung verfügte über zwei Zimmer mit einem Bett, einem Tisch und einer Art Sessel, und direkt danach gefragt, hätte er nicht genau sagen können, wie sie eigentlich möbliert war und warum gerade so.
Christer Börge hingegen hätte alles in seiner Wohnung beschreiben, eine komplette Inventarliste anfertigen können bis zur genauen Zahl Servietten in der zweiten Küchenschublade von oben. Dessen war sich Winter sicher gewesen. Börge sah aus wie jemand, der die totale Kontrolle haben musste, sollte die Welt für ihn ihre Normalität bewahren. Auch seine Frau sah so aus auf dem Foto, das auf dem Sofatisch stand, ein konservativer Typ, eine Frisur wie betoniert, ein abwesender Blick. Aber Ellen Börge hatte schöne, reine und regelmäßige Gesichtszüge auf diesem Foto. Es war ein Gesicht, das unter anderen Umständen umwerfend hätte sein können, mit einer anderen Frisur, und während Winter in dem schweren Sessel saß, hatte er gedacht, dass Ellen Börge mit ihrem Mann vielleicht nicht besonders glücklich gewesen war. Zu viel Kontrolle. Vielleicht waren Kinder geplant, aber erst in einigen Jahren, wenn der Mond richtig stand, wenn die Gezeiten gewechselt hatten, wenn die wirtschaftliche Situation es erlaubte.
Winter selbst verlor damals keinen Gedanken an Kinder, andererseits hatte er auch keine Frau, mit der er einen solchen Gedanken hätte teilen
Weitere Kostenlose Bücher