ZITRONENLIMONADE (German Edition)
ganzen Technikkram überhaupt in der Lage,
am Leben zu bleiben? Bilder aus Emergency Room, meiner Lieblings-Serie aus der
Notaufnahme eines Chicagoer Krankenhauses, rasten durch meinen Kopf. Wenn dort
die Patienten nur durch Maschinen noch lebensfähig sind, werden sie nach
Zustimmung der Hinterbliebenen immer als menschliche Ersatzteillager benutzt…
Aber im Film waren die alle nicht mehr
bei Bewusstsein, während ich zumindest die Augen halb offen hatte und klar
denken konnte, wenn auch sonst gerade nicht viel mit mir los war. Außerdem sollte ich mich ja nach den Worten
des Arztes “erholen“.
Okay, also keine Panik! Ich kam zu dem beruhigenden
Ergebnis, dass ich augenblicklich nicht als Organspender dienen sollte und
konzentrierte mich wieder auf das Wesentliche. Ich hätte dem Mann um den Hals
fallen können, weil ich mein Haar noch besaß! Ich hatte auch kapiert, was er
außerdem noch sagte, das erklärte die extreme Müdigkeit und das seltsame Gefühl
des Durchgeschnittenseins. Aber momentan zählte für mich am meisten, dass ich
nicht kahl war! Da sehen Sie mal, wo ich meine Prioritäten setzte! Ich klammerte
mich an die Worte des Arztes und ging einfach davon aus, dass er Recht hatte,
wenn er sagte, die Lähmung könne sich wieder geben. Es musste einfach so sein,
mein Gehirn weigerte sich, an die Alternative überhaupt einen Gedanken zu verschwenden.
Undeutlich bekam ich mit, dass die weiß
gekleideten Gestalten den Raum unter ernst klingendem Stimmengemurmel wieder
verließen.
Er hatte völlig richtig geraten, dieser
Arzt: Ich war verdammt müde, ich wollte jetzt einfach wieder schlafen und mich
nicht mehr mit meinem Zustand auseinander setzen müssen! Flucht vor der
Wirklichkeit würde ich das normalerweise nennen. Und in meinem wahren Leben
käme so etwas auch nicht in Frage: Ich bin Realistin und habe noch nie zu
Tagträumen oder Ausflüchten geneigt. Ich stellte mich den Problemen. Aber dies
hier war etwas anderes, oder?
Kein Mensch würde es mir vorwerfen,
wenn ich – zumindest gedanklich - davor flüchtete, dass ich frisch am Gehirn
operiert und mit Halbseitenlähmung, also praktisch zu 50 Prozent bewegungsunfähig
(in der Realität ergibt halbseitige
Lähmung mehr als halbe Bewegungsunfähigkeit, aber dazu später) , irgendwo auf einer Intensivstation im Bett lag
und nicht die leiseste Ahnung hatte, auf welche Art und Weise ich hier gelandet
war und wann ich aus diesem Krankenhaus wieder raus durfte.
Bevor ich mir genehmigte, wieder in den
gnädigen Vergessensschlaf hinüber zu gleiten, wollte ich doch wissen, ob in
meinem Oberstübchen, trotzdem sie darin herumgeschnippelt hatten, noch alles in
Ordnung war und ob mein Verstand funktionierte. Ich lag flach auf dem Rücken,
außerstande, auch nur den Kopf zu drehen oder anzuheben oder meine Augen ganz
zu öffnen und auf etwas zu richten. Lediglich mit halb geschlossenen Lidern an
die Decke starren konnte ich. Auf die eben Anwesenden musste ich einen völlig
durchgeknallten, weggetretenen Eindruck gemacht haben. Ein Wunder, dass dieser Arzt mich normal
angesprochen hatte! Aber mein Gehirn arbeitete glasklar und soweit ich es
beurteilen konnte, hatte auch mein zugegebenermaßen scharfer Verstand nicht
gelitten: Die berühmte Frage „Wer bin
ich - und wenn ja wie viele?“
beantwortete ich mir selbst.
Mein Name war Christina Salten, vor acht
Monaten hatte ich eine riesige Party anlässlich meines dreißigsten Geburtstages
veranstaltet. Ich war in Ludwigsburg in Baden-Württemberg geboren worden, wohnte
und arbeitete jetzt aber in München. Da ich halbseitig gelähmt war, gab es
momentan nur eine funktionierende Hälfte von mir. An einen halben Menschen hatte
Richard David Precht beim Titel seines bekannten Buches mit Sicherheit nicht
gedacht.
Ich beschloss, ihm irgendwann einmal
davon zu schreiben, mal sehen, was er daraus für philosophische Erkenntnisse
ziehen würde...
Ich erinnerte mich mühelos an meine
Adresse, die Vornamen meiner Eltern, Elisabeth und Hansjürgen, den meiner
Schwester Martina, deren Geburtstage und fragte mich dann, wo sich mein
zukünftiger Ehemann, Mark, mit dem ich die Wohnung und mein Leben teilte, gerade
befand. Warum stand er nicht hier an meinem Bett und hielt Händchen bei mir?
Gleiches galt für meine Familie. Wozu hatte man denn Angehörige und Freunde? Sie
sollten jetzt eigentlich vollzählig um
mich herum versammelt sein, total geschockt und außer sich sein und
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