Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
1 Die Festung der Winde
Der Wind blies aus Nordwesten. Trockene, heftige Böen stoben über das Antlitz der Grauen Lande. Sie zerrten an den fest verschlossenen Fensterläden und bauschten alle Wandbehänge und Banner in der Burg auf. Lose Dachziegel klapperten und rutschten davon. Sie prallten gegen hohe Türme und stürzten danach in die schwarzen Tiefen darunter. Der Wind pfiff durch die alte Burg. Er fand jeden Riss und jede Ritze in ihren Fensterläden und blies den Staub, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte, durch die Korridore. Dabei raschelte er in den zerfetzten Gobelins, die einst die Hohe Halle zierten – damals, in jenen längst vergangenen Tagen, als noch Licht und Gelächter die Halle erfüllten und Juwelen und Schwerter sie mit ihrem Glanz schmückten. Die kalten, trockenen Finger des Windes zerrten jetzt spöttisch an den ausgefransten Rändern der Wandteppiche und schlugen gleichzeitig die vielen Türen auf und zu, die lange vernachlässigt worden waren und nur noch lose an ihren Scharnieren hingen. Die Quader und der Mörtel waren sogar solide, und auch die Fensterläden hielten den Elementen noch stand, doch alles andere war dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.
Ein weiterer Dachziegel fiel klappernd hinunter, als eine schlanke weibliche Gestalt an einer der riesigen Steinsäulen, die zwei Seiten der Halle säumten, hinaufkletterte. Ein alarmierendes Knarren ertönte, als sie sich über die Balustrade der hölzernen Galerie hoch über dem Hallenboden schwang. Doch das Holz hielt. Die Kletterin hielt inne, schaute sich zufrieden um und wischte sich die staubigen Hände an ihrem schwarzen Hosenboden ab. Eine enge Holztreppe wand sich zu einer weiteren Galerie aus gemeißeltem Stein hinauf, doch die Stufen reichten nicht ganz bis nach oben. Die Gestalt musterte die Lücke, kniff die Augen zusammen und berechnete den Sprung, den sie ausführen musste: von der obersten Stufe bis zu dem Gargoyle, der sich unterhalb der Steinbalkons befand. Dann musste sie sich aufwärtsschwingen und mithilfe einiger gefährlicher Vorsprünge, an denen ihre Finger und Füße Halt finden konnten, auf den eigentlichen Balkon gelangen.
Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie wusste, dass sie in den sicheren Tod stürzte, wenn sie den Sprung verpasste. Dann zuckte sie mit den Schultern und begann den Aufstieg. Sie prüfte jede einzelne Holzstufe, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagerte. Auf der obersten Stufe zögerte sie erneut und sprang dann. Eine Hand schlug auf einem Kragstein auf, die andere klammerte sich an den halb ausgestreckten Flügel des Gargoyle. Sie schwang kurz hängend hin und her. Schließlich schnellten ihre Füße auf die Klauen des Gargoyle. Sie kletterte über die Schulter der Steinfigur hinweg auf die Galerie. Ihre Augen glänzten triumphierend und aufgeregt. Durch das hintere Ende der Galerie starrte sie in eine weitere Halle.
Diese war kleiner als die unter ihr liegende Hohe Halle. Allerdings bemerkte sie, dass dieser Saal einmal noch kostbarer und eleganter eingerichtet gewesen sein musste. Die staubigen Böden zeigten ein Mosaik aus Tieren, Vögeln und sich windenden Ranken. Vertäfelungen aus Metall und juwelenbesetztem Glas zierten die Wände. Am Ende des langen Raums befand sich ein Podest. An der Wand dahinter waren die fadenscheinigen Überreste eines Wandteppichs drapiert, der einmal kräftige Farben gehabt haben musste. Die ganze Halle war wahrscheinlich von ihnen erfüllt gewesen, doch jetzt war sie ein düsterer und lebloser Ort.
Sie machte einen Schritt nach vorne. Doch plötzlich zuckte sie zusammen und wirbelte herum, weil durch ihre Bewegung die spiegelbesetzten Wände zum Leben erwachten. Ein schlankes Mädchen mit feinen Gesichtszügen starrte sie aus rauchgrauen Augen an. Eine Weile betrachtete sie sich selbst. Dann streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und lachte über ihre eigene Angst. » Das muss die Spiegelhalle sein « , sagte sie und passte ihre Stimme der Stille an, die sie umgab. Sie wusste, dass hier einst Yorindesarinen gewandelt war und Telemanthar, der Schwertkämpfer der Sterne – vorausgesetzt, die Geschichten entsprachen der Wahrheit. Doch jetzt gab es hier nur Leere und Zerfall.
Sie durchquerte die Halle und betrat das flache Podest. Der größte Teil des Wandbehangs an der rückwärtigen Wand war zu Fetzen vermodert oder von Motten zerfressen worden. Doch ein Stück des Mittelteils war noch intakt. Der Hintergrund zeigte Finsternis mit
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