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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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ständig zeichnete. Als ich erkannte, wessen Gesicht das war, hätte mich eine Ameise umwerfen können, mit Leichtigkeit. Auf dem Papier, mit acht bis zehn sicheren Strichen hingeworfen, sah ich mich .
    Ich schlug den Block wieder zu und ging zurück in den ersten Stock. Von meinem eigenen Zimmer war ich jetzt fast enttäuscht, dabei war es das beste der drei Zimmer auf der Etage, mit einem schmalen Holzbett, das einmal Henry gehört hatte, als er noch ein Junge war, einer Spiegelkommode, einem leeren Überseekoffer, der nach Mottenkugeln roch, und einem begehbaren Kleiderschrank. Aus vier hohen Fenstern schaute man auf den Garten, und vor jedem gab es eine breite Sitzbank mit einem Kissen darauf. Ich hatte alle Fenster aufgemacht, um Luft hereinzulassen, aber meinen Koffer – sprich: meine Papiertüte vom Piggly-Wiggly-Supermarkt – hatte ich nicht ausgepackt, für alle Fälle. Nicht dass ich viel gehabt hätte: eine Ersatzjeans, drei T-Shirts, vier Paar Socken, ziemlich abgetragene Unterwäsche und einen Rock mit einer Tasche, in die ich den letzten Rest von meinem Notgeld gestopft hatte – dreiundfünfzig aufgerollte, mit einem Gummi zusammengehaltene Ein-Dollar-Scheine. Ich legte mein Notizbuch und die Stifte auf eine der Fensterbänke und setzte meinen alten braunen Hasen, dem ein Ohr fehlte, auf die Bettdecke. Umzug beendet. Vermutlich würde ich sowieso bald wieder ausziehen.
    Ich ging nach unten in Henrys Arbeitszimmer, das ich mir bis zuletzt aufgespart hatte. Bücherwände reichten vom Boden bis zu der hohen alten Deckenverkleidung aus Metall, und damit man an die obersten Regalborde herankonnte, gab es eine Leiter mit Rollen. Ich atmete den muffigen, ledrigen Geruch der Bücher ein, den Duft von altem Papier, und es lief mir kalt über den Rücken. Wenn ich überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wie es imHimmel sein mochte, dann so: Bücher über Bücher, ein Regal neben dem anderen, zehnmal mehr als oben, mit Geschichten oder Bildern, eins aufregender und schöner als das andere, und dazu zwei dick gepolsterte Sessel, groß genug, um darin zu schlafen.
    An jedem Ort, an dem Mama und ich gestrandet waren, hatte ich die Stadtbücherei zu meinem wahren Zuhause gemacht. Im Sommer und an den Wochenenden ging es mir dort am besten, denn ich konnte den ganzen Tag darin verbringen, es war warm oder dank Klimaanlage schön kühl, und es war ruhig. An Wochentagen außerhalb der Ferienzeiten achtete ich darauf, nicht vor drei Uhr nachmittags aufzutauchen, damit niemand merkte, dass ich schwänzte. Aber nach drei konnte ich dableiben, bis geschlossen wurde, also normalerweise bis acht oder neun. Egal wie krank Mama war oder mit was für einem zwielichtigen Kerl sie sich wieder eingelassen hatte, egal was mir Sorgen machte – Bücher halfen mir immer, mich besser zu fühlen.
    Ich zählte die Regale in Henrys Bibliothek: an den beiden Längswänden zwei, mit je zehn Borden übereinander, die vom Boden bis zur Decke reichten, je ein Regal rechts und links von den hohen Fenstern, die nach Osten hinausgingen, zum Sonnenaufgang hin, zwei weitere Regale rahmten die große Doppeltür zum Flur ein. Ich probierte den großen Ledersessel aus, lehnte mich weit zurück und drehte mich dann so lange im Kreis, bis mir schwindlig wurde. Staubkörnchen tanzten auf den Sonnenstrahlen, die schräg ins Zimmer fielen. Ich wirbelte in dem warmen Licht herum und atmete die gute Bücherluft ein.
    Manche Titel der Bücher im Regal kannte ich: Die Schatzinsel, Robin Hood, Die Tierfamilie, Rascal, der Waschbär. Ich strich über die vertrauten Buchrücken, aber ausgiebiger betrachtete ich Bücher, die ich nie zuvor gesehen hatte. Eins zog ich heraus; es hatte Bilder und handelte von einem japanischen Jungen, der Katzenzeichnete. Auf dem Vorsatzblatt stand Henry Royster , acht Jahre . Ich schob das schmale Buch in den Hosenbund, und gleich spürte ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. In meinem Kopf meldete sich wieder Rays gruselige Miesmacherstimme zu Wort: »Wofür hältst du dich eigentlich, Kleine? Du bist nichts, und aus dir wird auch nie was.« So spottete er jedes Mal, wenn er mich dabei erwischte, dass ich ein Buch las oder etwas in mein Notizbuch schrieb. Und er lachte sich halb tot. Geld wollte er trotzdem immer von mir. Plötzlich kam ich mir vor wie ein Straßenkind, das sich die Nase am Schaufenster eines Bonbonladens plattdrückt und anderen Kindern zusieht, denen ihre Mütter oder Väter alles kaufen, was sie wollen.

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