Zoë
den meisten Wohnungen, in denen ich vorher gelebt hatte. Mama wollte es immer dunkel haben wie ein Maulwurf. Wenn sie nicht im Krankenhaus war oder bei einem ihrer mies bezahlten Jobs, dann blieb sie den ganzen Tag über im Schlafzimmer, hinter verschlossener Tür und heruntergelassenen Jalousien. Manchmal vergaß ich völlig, dass sie überhaupt da war, ehrlich. Dann saß ich da, in dem Winkel der Wohnung, den ich für mich hatte, las oder zeichnete, und plötzlich kam sie vorbeigeschlurft, in Pantoffeln und ihrem schmuddeligen Nachthemd, dünn und blass und mit roten Augen, die Haare plattgelegen, alle auf einer Seite, mit rausgewachsenem dunklem Ansatz. Ein paar Minuten später schlurfte sie wieder vorbei, dieses Mal in die andere Richtung, wie ein Geist kam sie mir damals immer vor. Im Vorbeigehen flüsterte sie »Hey, Baby«. Wenn sie mich überhaupt wahrnahm. Dass sie mal ein bisschen auflebte und sich zurechtmachte, das passierte nur abends oder zwischen einem Freund und dem nächsten. Hatte sie sich erst einmal einen Mann geangelt, dann achtete sie immer weniger auf sich, bis er irgendwann weg war.
Von den Männern, die bei uns wohnten, war Lester der Erste, an den ich mich wirklich erinnere, obwohl ich blasse Bilder im Kopf habe von anderen Typen vor ihm. Lester arbeitete schwer, manchmal zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag, aber zu Hause spielte sich sein ganzes Leben auf einem Liegesessel vor dem Farbfernseher ab, umgeben von überquellendenAschenbechern, einem oder mehr Zwölferpacks zerbeulter Bierbüchsen und diversen Tüten mit Salzbrezeln, Popcorn, Mais-Chips. Das war seine Vorstellung von einem schönen Abend.
Nach Lester kam Manny. Das Einzige, was noch größer war als Mannys Fernseher, waren seine Stereo-Lautsprecher. Die Nachbarn zu beiden Seiten hämmerten an die Wände und brüllten rüber, er solle mal die Musik leiser stellen. Das machte er dann auch, aber nur, um kurz Wetten abzuschließen oder Pizza zu ordern. Jeder Zentimeter unserer Wohnung war übersät mit den Sportseiten der Zeitung und Wettformularen von Rennen, die er jedes Mal zusammenknüllte oder zu Konfetti zerriss, wenn er verlor, was eher die Regel war.
Harlan und Charlie waren Weltmeister im Schlafen, zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, wenn man sie ließ, und das war auch die einzige Zeit, in der man was Gescheites mit Mama anfangen konnte. Ray gehörte zu denen, die alles stehen und liegen lassen, egal wo sie sind. Was er auszog oder leid wurde, blieb exakt dort liegen, wo er es fallen ließ. Wie eine Schlange, die sich häutet, kam er mir vor.
Aber Henrys Haus war sauber und gut gelüftet, da war nichts von dem ganzen Müll, den ich gewohnt war, und ein Fernseher war auch nirgends zu sehen. Das Vorderzimmer war verschlossen, über Sofa, Stühle, Tische, Lampen und Kartons waren Laken gebreitet.
Sobald man das Haus betrat, wusste man, dass hier ein arbeitender Mensch lebte. Am Fuß der Treppe lehnte ein Vorschlaghammer, daneben stand eine Kiste mit Muttern und Schrauben. Verfleckte Arbeitskleidung hing an Haken, am Boden standen lehmige, angestoßene Stiefel in einer Reihe, und alles stank nach Öl und Schweiß. Das war der Geruch, der jedem Mann angehaftet hatte, der sich um mich gekümmert hatte, seit ich noch ganz kleingewesen war. Aber das war auch schon alles, was Henry mit den anderen gemein hatte. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und ich stieg wieder nach oben, betrachtete die Bilder, die die Wände bedeckten, und dachte, dass Henry anders war als alle Arbeiter, die ich sonst gekannt hatte.
Dreißig, vielleicht sogar vierzig Zeichnungen und gemalte Bilder waren mit Reißzwecken an der Wand befestigt, nebeneinander, manchmal auch übereinander, von der Decke bis zum mit Farbe beklecksten Boden. Und sie waren gut, diese Bilder. Auf vielen war dieselbe Frau zu sehen, eine mit langen braunen Haaren. Eins zeigte ihr Gesicht und ihre Hände, auf einem blickte sie über die Schulter zurück, eins zeigte sie nachdenklich im Profil. Immer war sie mit nur wenigen Strichen skizziert. Auf anderen Bildern war sie nicht zu sehen: Da gab es farbige Blöcke, die sich von der Wand zu lösen und in der Luft zu schweben schienen, einander überlappende Kreise, Dreiecke und Rechtecke aus dicken Schichten leuchtender Farbe. Manchmal hatten der Stift oder auch der Pinsel das Papier verlassen und einfach auf der Wand weitergemalt.
Am Treppenabsatz auf der ersten Etage, gleich vor meinem Zimmer, schwebte ein blitzendes
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