Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Teil eins
Eins
Klick – Klack.
Auf dem Nachttisch neben dem Kinderbett steht ein Micky-Maus-Wecker. Die dünnen Arme bilden die Uhrzeiger, der linke weist schräg nach unten, auf die Acht. Der rechte ist hoch aufgerichtet und schwebt leise zitternd zwischen der Zwei und der Drei. Der Junge weiß nicht, dass es gleich Viertel nach acht ist, schließlich ist er erst fünf, aber die Uhr hat ihm gefallen, und er hat so lange gebettelt, bis sein Vater sie gekauft hat.
»Ich will sie haben!«, hatte er gerufen, so laut, dass sich die Leute in dem kleinen Supermarkt nach ihnen umdrehten. Er hatte sogar mit dem Fuß aufgestampft, bis sein Vater in gespielter Verzweiflung lachend die Arme gehoben hatte. Dann war er ernst geworden, hatte sich zu ihm hinabgebeugt, bis sein Gesicht ganz dicht vor dem seines Sohnes war und leise gesagt, dass er ihm den Wecker kaufe. Dass er heute eine Ausnahme mache.
Jetzt, wo sie ihr kleines Geheimnis hatten.
Der Junge gähnt und reibt sich die müden Augen. Er hat keine Ahnung, was eine Ausnahme ist. Aber was sein Vater mit dem kleinen Geheimnis meint, das weiß er.
Er greift nach dem Wecker, legt sich auf den Rücken und betrachtet ihn stirnrunzelnd. Das spitze Gesicht der Figur auf dem Zifferblatt ist in einem schrägen Grinsen erstarrt, die Augen sind weit aufgerissen und bewegen sich im Sekundentakt.
Klick – nach rechts.
Klack – nach links.
Der rechte Arm zeigt genau nach unten, auf die Sechs. Eine Weile bewegt der Junge seine Augen mit, dann wird ihm schwindlig und er hört wieder auf. Jetzt, aus der Nähe, sieht Micky Maus irgendwie anders aus. Gar nicht mehr so fröhlich, wie er anfangs dachte. Der Mund ist weit aufgerissen, es könnte ein Lachen sein. Oder aber ein stummer Schrei, ein Ausdruck von Schmerz, vielleicht ist es sogar Wahnsinn (ein Begriff, den er im Moment noch nicht einordnen kann, aber im Laufe seines kurzen Lebens noch allzu gut kennenlernen wird).
Er seufzt leise und stellt den Wecker zurück, so, dass er die Figur nicht mehr sehen muss. Noch macht sie ihm keine Angst, verursacht eher eine Art Unbehagen.
Er hört Schritte auf dem Flur, die Tür geht auf, sein Vater lächelt ihm zu. Dann schließt er die Tür. Sorgfältig.
Das macht er erst, seit sie ihr kleines Geheimnis haben.
Er kommt näher und setzt sich auf den Bettrand.
»Hast du dir die Zähne geputzt?«
Das hat der Junge nicht, aber er nickt. Der Mann nickt ebenfalls und gibt seinem Sohn einen Kuss auf die Wange. Er riecht sein Rasierwasser. Der Duft – Nightflight von Joop! – wird ihn für den Rest seines Lebens verfolgen, so sehr, dass er später mit dem Brechreiz kämpfen wird, wenn er ihn irgendwo wahrnimmt.
Zuerst verändert sich der Blick des Mannes. Wird hart, gierig. Jetzt bekommt der Junge Angst, er setzt sich im Bett auf, der Vater greift seine Schultern und drückt ihn sanft zurück, sagt, dass er sein Junge sei, dass er ihn liebe und dass sie jetzt ein Geheimnis hätten, das niemand erfahren dürfe. Das wisse er doch, oder?
Der Junge schluckt. Dann nickt er.
Der Vater murmelt etwas Unverständliches und zieht die Bettdecke zurück. Dann streichelt er ihn. Seine Hände sind groß und behaart. Sie zittern.
Der Junge schließt die Augen.
Der Atem des Mannes wird schwerer. Er tut ihm nicht weh, noch nicht. In ein paar Monaten wird er eine Kamera mitbringen. Dann, ja dann wird er ihm weh tun, so sehr, dass der Junge auch mit zwölf noch ins Bett pinkeln wird. Die Albträume werden folgen, in denen Micky Maus aus dem Wecker springt und mit einem irren Kreischen durch das Zimmer rast und sein Spielzeug zertrümmert.
Noch später, wenn er dreizehn und ein wenig stärker geworden ist, wird er sich zum ersten Mal wehren. Danach wird es aufhören, und er wird es ein paar Jahre vergessen. Aber irgendwo in einer dunklen Ecke seines Kopfs wird er die Erinnerung abspeichern, wo sie liegenbleiben wird wie ein stinkendes, schlafendes Tier.
Eines Nachts dann, wenn der Junge erwachsen ist und der Wecker längst zerborsten auf der städtischen Müllhalde liegt, wird er seinem Vater im Stadtpark begegnen.
Und dabei zusehen, wie sein Vater langsam, sehr langsam zerfleischt wird.
Bis dahin allerdings wird noch eine Menge Zeit vergehen.
Klick – Klack.
Zwei
Es war Anfang August, und es war schwül. Die Menschen duckten sich unter der Hitze, es schien, als hätte sich eine schmuddelige Herrensocke über die Gegend gebreitet. Die Stadt glich einer flimmernden Garküche, in der es
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