Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)
Augenwinkel.
Schröder wird alt, dachte er. Er hat dasselbe durchgemacht wie Max Brandt, auch er hat nie darüber gesprochen. Und er ist durch die gleiche Hölle gegangen, wahrscheinlich lebt er noch immer darin. Klar, er ist ein alberner, dicker Kerl, der in zu großen Klamotten rumläuft, er schwitzt, er sieht aus wie ein Clown. Aber er ist ein guter Mensch. Der beste, den ich je getroffen habe.
Ein paar Stockwerke über ihnen wurde ein Fenster geöffnet, Musik drang heraus, die billige Instrumentalversion eines schlechten Schlagers. Claudius Zorn spürte ein unangenehmes Kribbeln auf dem Kopf. Das, überlegte er, konnte natürlich an der Musik liegen, vielleicht aber auch daran, dass er sich dringend die Haare waschen musste.
Schröder riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wie machen wir weiter, Chef?«
»Hm.« Zorn tat, als müsse er angestrengt nachdenken. »Ich würde sagen, du legst dich ein Stündchen hin. Danach fährst du ins Präsidium und kümmerst dich um die Formalitäten und den ganzen Schreibkram. Wir sehen uns morgen. Und dann jagen wir gemeinsam wieder Pfandflaschendiebe und Schwarzfahrer.«
»Ein guter Plan. Dann fahr ich jetzt nach Hause.«
Schröder gähnte, nickte Zorn zum Abschied zu und tippelte los.
»Träum schön, Schröder.«
»Ich versuch’s.«
Schröder hob die Hand und winkte, ohne sich umzusehen. Er trottete dahin, in seinem typischen, leicht schaukelnden Gang, der Mantel schlotterte fast bis zum Boden, das dünne Haar stand wirr vom Kopf ab wie ein rötlicher, ein wenig zerknitterter Heiligenschein.
Zorn sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann setzte er sich auf einen Papierkorb und zog die letzte Zigarette hervor. Das Feuerzeug klickte. Etwas wehmütig überlegte er, wie oft er wohl schon so dagesessen und in die Glut einer brennenden Zigarette gestarrt hatte.
Die Haustür gegenüber öffnete sich, vier Männer der Spurensicherung kamen heraus und begannen, ihre Koffer in einem Transporter zu verstauen.
Vielleicht, dachte Zorn, hätte der Junge überleben können. Wenn sich jemand um ihn gekümmert hätte. Jetzt ist er tot. Aber ich will nicht darüber nachdenken, wie ich es hätte verhindern können.
Hätte. Würde. Wäre.
Er seufzte, kniff die Augen zusammen und sah in die Sonne.
Lieber Gott, betete er still, irgendwann wache ich auf und stelle fest, dass mein Leben aus nichts anderem bestand, als aus einer Aneinanderreihung verpasster Möglichkeiten. Ich brauche jemanden, der mir ab und zu in den Arsch tritt. Vielleicht könntest du das übernehmen? Es reicht schon, wenn du mich zwischendurch mal aufmunterst. Du weißt, dass ich nicht an dich glaube, aber das kann dir ja egal sein, großmütig wie du bist. Und wenn du erwartest, dass ich wenigstens die Möglichkeit deiner Existenz in Betracht ziehen soll, dann tu gefälligst was!
Er wandte den Blick ab, helle Flecken tanzten durch sein Gesichtsfeld.
Quatsch, dachte er. Gott ist tot. Oder zumindest taub.
Ein Motorrad dröhnte vorbei. Rufe wurden laut, dann wurde das Fenster über ihm zugeschlagen. Sofort verstummte die Musik.
Wenn du denkst, dass ich dir das anrechne, hast du dich geschnitten, murmelte Zorn. Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen. Amen.
Auf der anderen Straßenseite rief jemand leise seinen Namen.
Eine Frau stand in der Eingangstür. Er konnte sie nur verschwommen erkennen, schließlich hatte er keine Brille auf. Aber er registrierte ihre schlanke Gestalt, das helle Kleid, ihr dunkles Haar. Ihre Augen sah er ebenfalls nicht, jedenfalls nicht deutlich, aber er wusste, dass sie ständig die Farbe zu wechseln schienen. Und er glaubte, einen leichten Geruch nach Flieder wahrzunehmen.
Danke, Gott. Dass man immer erst drohen muss, bevor du was unternimmst.
Malina winkte ihm zu. Das erkannte er deutlich, aber er sah nicht, dass Schröder ein paar hundert Meter weiter um die Ecke an einer Hauswand lehnte und weinte.
Claudius Zorn trat die Zigarette aus und lächelte zurück.
Dank an alle, die dieses Buch gelesen haben. Für die Zeit, die sie mit Zorn und Schröder verbrachten. Ich hoffe, es war nicht umsonst.
Krk, im Juni 2012
Über Stephan Ludwig
Stephan Ludwig , Jahrgang 1965, arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Gaststättenbetreiber. Er lebt in Halle und hat sich als Rundfunkproduzent einen Namen gemacht. Beim Schreiben arbeitet er genau wie im Tonstudio: aus dem Bauch heraus. Krimis zu schreiben ist für ihn ein Glücksfall, dabei stellt er seine Ermittler
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