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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Zum Beispiel, wie es ihnen geht.
    Es geht ihnen gut. Sie sind wirklich glücklich und vergnügt. Sie scheinen keine Erinnerung an irgendetwas Schlimmes zu haben. Sie sind vielleicht ein bisschen älter, als sie waren, aber das lässt sich schwer sagen. Sie scheinen auf verschiedenem Niveau zu verstehen. Ja. Man kann bei Dimitri merken, dass er sprechen gelernt hat, was er noch nicht konnte. Sie sind in einem Zimmer, das ich teilweise erkennen kann. Es ist wie unser Haus, nur geräumiger und schöner. Ich habe sie gefragt, wie sie versorgt werden, und sie haben mich nur ausgelacht und so in etwa gesagt, sie könnten sich selbst versorgen. Ich glaube, es war Sasha, der das gesagt hat. Manchmal reden sie durcheinander, oder wenigstens kann ich ihre Stimmen nicht voneinander trennen, aber ihre Wesen sind ganz deutlich und, muss ich sagen, fröhlich.
    Bitte schließ daraus nicht, dass ich verrückt bin. Aus Angst davor wollte ich Dir nichts davon sagen. Ich war früher mal verrückt, aber glaube mir, ich habe meinen alten Wahnsinn abgeworfen, wie der Bär sein Winterfell abwirft. Oder vielleicht sollte ich sagen, wie eine Schlange ihre alte Haut abwirft. Ich weiß, wenn ich das nicht getan hätte, wäre mir nie diese Fähigkeit verliehen worden, mit Sasha und Barbara Ann und Dimitri wieder in Verbindung zu treten. Jetzt wünsche ich, dass auch Du die Gelegenheit dazu erhältst, denn Du verdienst es weitaus mehr als ich. Es mag Dir schwerer fallen, weil Du viel mehr als ich in der Welt lebst, aber wenigstens kann ich Dir dies mitteilen – die Wahrheit – und Dir sagen, ich habe sie gesehen, in der Hoffnung, dass es Dir das Herz leichter macht.
    Doree überlegte, was Mrs Sands wohl sagen oder denken würde, wenn sie diesen Brief las. Mrs Sands würde natürlich vorsichtig sein. Sie würde sich hüten, ihn rundheraus für verrückt zu erklären, aber sie würde Doree behutsam und freundlich in diese Richtung lenken.
    Oder man könnte auch sagen, nicht in diese Richtung lenken, sondern einfach die Unklarheit beseitigen, so dass Doree schließlich mit etwas dastehen würde, dass so aussah, als sei es von Anfang an ihre eigene Überzeugung gewesen. Sie würde den ganzen gefährlichen Unsinn – hier sprach Mrs Sands – aus ihrem Kopf verbannen müssen.
    Deshalb machte Doree einen weiten Bogen um sie.
    Dabei war Doree selbst der Meinung, dass er verrückt war. Und in dem, was er geschrieben hatte, fand sie einen Rest von der alten Prahlerei. Sie antwortete ihm nicht. Tage vergingen. Wochen. Sie änderte ihre Meinung nicht, aber sie hielt an dem, was er geschrieben hatte, immer fest, wie an einem Geheimnis. Und von Zeit zu Zeit, wenn sie gerade dabei war, einen Badezimmerspiegel einzusprühen oder ein Laken glattzuziehen, überkam sie ein Gefühl. Fast zwei Jahre lang hatte sie keinerlei Notiz von den Dingen genommen, die Menschen im Allgemeinen glücklich machen, wie schönes Wetter oder blühende Blumen oder der Geruch einer Bäckerei. Sie verspürte immer noch nicht dieses spontane Glücksgefühl, aber doch eine leise Erinnerung daran. Es hatte nichts mit dem Wetter oder mit Blumen zu tun. Es war die Vorstellung von den Kindern in dem, was er ihre Dimension genannt hatte, die in ihr aufkam und sie zum ersten Mal ein wenig aufrichtete, statt ihr weh zu tun.
    In der ganzen Zeit seit dem Geschehnis war jeder Gedanke an die Kinder etwas gewesen, das sie sofort entfernen, herausreißen musste, wie ein Messer in der Kehle. Sie konnte ihre Namen nicht denken, und wenn sie einen Namen hörte, der wie einer der ihren klang, dann musste sie auch den herausreißen. Sogar Kinderstimmen, ihre Schreie und das Patschen ihrer Füße, wenn sie zum Swimmingpool des Motels rannten, mussten von einer Art Tür verbannt werden, die sie hinter ihren Ohren zuschlagen konnte. Doch anders als bisher hatte sie jetzt eine Zuflucht, in die sie sich retten konnte, wenn solche Gefahren irgendwo um sie herum auftraten.
    Und wer hatte ihr die gegeben? Nicht Mrs Sands – soviel war sicher. Nicht in all den Stunden, in denen sie neben ihren Schreibtisch gerückt war, immer mit den Kleenex diskret zur Hand.
    Lloyd hatte sie ihr gegeben. Lloyd, dieser schreckliche Mensch, dieser isolierte und wahnsinnige Mensch.
    Wahnsinnig, wenn man es so nennen wollte. Aber war es nicht möglich, dass stimmte, was er sagte – dass er tatsächlich auf der anderen Seite herausgekommen war? Und wer wollte sagen, dass die Visionen eines Menschen, der so etwas getan

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