Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
war. Die Zunge. Die Zunge kann die Atmung blockieren, wenn sie in den Gaumen zurückgerutscht ist. Sie legte eine Hand auf die Stirn des Jungen und die andere unter sein Kinn. Drück die Stirn runter und das Kinn hoch, um den Luftweg frei zu machen. Ein kurzer, fester Ruck.
Wenn er dann immer noch nicht atmete, musste sie ihn beatmen.
Sie hält sich die Nase zu, holt tief Luft, drückt ihre Lippen auf seinen Mund und pustet. Zweimal pusten und Pause. Zweimal pusten und Pause.
Eine andere Männerstimme, nicht die des Busfahrers. Ein Autofahrer musste angehalten haben. »Wollen Sie ihm die Decke unter den Kopf legen?« Sie schüttelte kurz den Kopf. Ihr war noch etwas eingefallen, nämlich, das Opfer nicht zu bewegen, damit man die Wirbelsäule nicht verletzte. Sie stülpte ihren Mund über seinen. Drückte ihn auf seine warme, frische Haut. Sie pustete und wartete. Pustete und wartete wieder. Und ein Hauch von Feuchtigkeit schien ihr ins Gesicht zu steigen.
Der Busfahrer sagte etwas, aber sie konnte nicht hochsehen. Dann spürte sie es deutlich. Ein Atemzug aus dem Mund des Jungen. Sie legte ihre gespreizte Hand auf seine Brust, und anfangs merkte sie nicht, ob sie sich hob und senkte, weil sie selbst so zitterte.
Doch. Doch.
Es war ein richtiger Atemzug. Der Luftweg war frei. Er atmete selbständig. Er atmete.
»Legen Sie ihm die einfach über«, sagte sie zu dem Mann mit der Decke. »Um ihn zu wärmen.«
»Lebt er?«, fragte der Busfahrer, über sie gebeugt.
Sie nickte. Ihre Finger fanden wieder den Puls. Der schreckliche rosa Schaum floss nicht mehr. Vielleicht war es nichts Schlimmes. Nichts aus seinem Gehirn.
»Ich kann den Bus nicht auf Sie warten lassen«, sagte der Fahrer. »Wir haben sowieso schon Verspätung.«
Der Autofahrer sagte: »Fahren Sie ruhig. Ich kann die Frau mitnehmen.«
Seid still, seid doch still, wollte sie ihnen sagen. Ihr schien, es müsse Stille herrschen, es müsse sich alles in der Welt um den Körper des Jungen herum darauf konzentrieren, ihn an seine Pflicht zum Atmen zu erinnern.
Ein leichtes Hauchen, aber jetzt regelmäßig, sanft regte sich die Brust. Mach weiter, mach weiter.
»Haben Sie gehört? Der Mann da sagt, er bleibt hier und passt auf«, sagte der Busfahrer. »Der Rettungswagen kommt, so schnell er kann.«
»Fahren Sie weiter,« sagte Doree. »Die werden mich schon mitnehmen, und dann fahre ich heute Abend mit Ihnen wieder zurück.«
Er musste sich vorbeugen, um sie zu hören. Sie sprach fast tonlos, ohne den Kopf zu heben, so, als sei ihr Atem kostbar.
»Bestimmt?«, fragte er.
Bestimmt.
»Sie müssen nicht nach London?«
Nein.
Erzählungen
I
Das Schönste im Winter war die Heimfahrt nach dem Musikunterricht, den sie wöchentlich in der Rough River School gab. Es war dann schon dunkel, und es konnte sein, dass in den höher gelegenen Straßen der Stadt Schnee fiel, während das Auto auf der Küstenstraße von Regen gepeitscht wurde. Joyce fuhr über die Stadtgrenzen hinaus in den Wald, und obwohl es ein richtiger Wald mit großen Douglastannen und Zedern war, wohnten Leute darin, jeweils etwa eine viertel Meile voneinander entfernt. Einige betrieben Gemüsegärtnereien, manche hielten Schafe oder Reitpferde, und es gab Werkstätten wie die von Jon – er war Möbeltischler und -restaurator. Außerdem Dienstleistungen, wie sie am Straßenrand und besonders in diesem Teil der Welt angepriesen wurden – Tarotweissagungen, Kräutermassagen, Konfliktbewältigung. Einige Leute lebten in Wohnwagen, andere hatten sich eigene Häuser mitsamt Strohdächern und Blockhüttenfassaden gebaut, und wieder andere wie Jon und Joyce renovierten alte Bauernhäuser.
Eines sah Joyce besonders gern, wenn sie nach Hause kam und in ihr eigenes Grundstück einbog. Zu jener Zeit bauten sich viele Leute, auch einige von denen mit Strohdach, sogenannte Terrassentüren ein, sogar wenn sie wie Jon und Joyce gar keine Terrasse hatten. Diese Türen blieben meistens ohne Vorhänge, und die beiden hohen Rechtecke aus Licht wirkten wie ein Anzeichen oder ein Versprechen von Gemütlichkeit, Sicherheit und Wohlstand. Warum das mehr als bei gewöhnlichen Fenstern so war, vermochte Joyce nicht zu sagen. Vielleicht, weil die meisten nicht nur den Blick auf das Waldesdunkel freigaben, sondern auch den direkten Zugang dazu erlaubten, und weil sie das traute Heim so arglos zur Schau stellten. Leute in voller Größe, die kochten oder fernsahen – Szenen, die sie entzückten, auch wenn sie
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