Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
und solch eine Reise zurückgelegt hatte, nicht etwas bedeuten konnten?
Dieser Gedanke schlängelte sich in ihren Kopf und blieb dort.
Zusammen mit der Überlegung, dass von allen Menschen Lloyd der eine sein könnte, mit dem sie jetzt zusammen sein sollte. Wie anders konnte sie auf der Welt von Nutzen sein – sie schien das zu jemandem zu sagen, wahrscheinlich zu Mrs Sands –, wozu war sie sonst da, wenn nicht, um ihm wenigstens zuzuhören?
Ich habe nicht gesagt, »um ihm zu verzeihen«, sagte sie im Kopf zu Mrs Sands. Das würde ich nie sagen. Das würde ich nie tun.
Doch andererseits. Bin ich durch das, was geschehen ist, nicht ebenso von allem abgeschnitten wie er? Niemand, der davon weiß, würde mich um sich haben wollen. Was ich auch tue, es erinnert andere an etwas, woran niemand erinnert werden will.
Eine Maskierung war eigentlich gar nicht möglich. Diese gelbe Dornenkrone war zu nichts zu gebrauchen.
Also saß sie wieder im Bus und war auf dem Highway unterwegs. Sie erinnerte sich an die Nächte unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter, als sie sich hinausstahl, um sich mit Lloyd zu treffen, und der Freundin ihrer Mutter, der Frau, bei der sie wohnte, etwas vorlog, wo sie hingehe. Sie erinnerte sich an den Namen der Freundin, der Freundin ihrer Mutter. Laurie.
Wer außer Lloyd konnte sich inzwischen an die Namen der Kinder erinnern oder an die Farbe ihrer Augen? Mrs Sands nannte sie, wenn sie sie erwähnen musste, nicht einmal »die Kinder«, sondern »Ihre Familie«, und warf sie alle zusammen in einen Topf.
Als sie sich damals mit Lloyd treffen wollte und Laurie belog, hatte sie kein Schuldgefühl gehabt, nur ein Gefühl von Bestimmung, Unterwerfung. Als sei sie zu keinem anderen Zweck auf die Welt gekommen, als mit ihm zusammen zu sein und ihn zu verstehen.
So war es jetzt nicht mehr. Es war nicht dasselbe.
Sie saß auf dem vordersten Sitz rechts vom Fahrer. Sie hatte klare Sicht durch die Windschutzscheibe. Und deshalb war sie der einzige Fahrgast im Bus, die einzige Person außer dem Fahrer, die sah, wie ein Pick-up, ohne zu verlangsamen, aus einer Nebenstraße kam, vor ihnen über den leeren Sonntagmorgen-Highway donnerte und in den Straßengraben stürzte. Und die noch etwas Seltsameres sah: Der Fahrer des Pritschenwagens segelte durch die Luft, er flog schnell und langsam zugleich, absurd und trotzdem elegant. Er landete in dem Kies am Rand der Fahrbahn.
Die anderen Fahrgäste wussten nicht, warum der Fahrer auf die Bremse getreten war und so abrupt und unangenehm gehalten hatte. Und anfangs dachte Doree nur: Wie ist er rausgekommen? Dieser junge Mann oder Junge, der am Steuer eingeschlafen sein musste. Wie war es ihm gelungen, aus der Kabine zu fliegen und sich so graziös in die Luft zu werfen?
»Ein Kerl direkt vor uns«, sagte der Fahrer zu seinen Fahrgästen. Er versuchte, laut und ruhig zu sprechen, aber in seiner Stimme lag ein Zittern vor Schreck, etwas wie Ehrfurcht. »Ist eben über die Straße gepflügt und in den Graben. Wir fahren so bald wie möglich weiter, und in der Zwischenzeit steigen Sie bitte nicht aus dem Bus.«
Als habe sie das nicht gehört oder als habe sie ein besonderes Recht, sich nützlich zu machen, stieg Doree hinter ihm aus. Er tadelte sie nicht.
»Verdammtes Arschloch«, sagte er, als sie die Straße überquerten, und in seiner Stimme lagen jetzt nur Verärgerung und Wut. »Verdammter Scheißbengel, ist das zu fassen?«
Der Junge lag auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, wie jemand, der einen Engel im Schnee macht. Nur, dass Kies um ihn lag, nicht Schnee. Seine Augen waren nicht ganz geschlossen. Ein junges Bürschchen, das hoch aufgeschossen war, noch bevor es sich rasieren musste. Wahrscheinlich ohne Führerschein.
Der Fahrer sprach jetzt in sein Telefon.
»Etwa eine Meile südlich von Bayfield, auf der östlichen Seite vom Highway 21 .«
Ein Rinnsal aus rosa Schaum lief unter dem Kopf des Jungen hervor, dicht bei seinem Ohr. Es sah gar nicht wie Blut aus, sondern wie der Schaum, den man von Erdbeeren beim Marmeladekochen abschöpft.
Doree hockte sich neben ihn. Sie legte die Hand auf seine Brust. Die sich nicht regte. Sie beugte das Ohr hinunter. Jemand hatte vor kurzem sein Hemd gebügelt – es hatte diesen Geruch.
Keine Atmung.
Aber ihre Finger auf seinem glatten Hals fanden einen Puls.
Ihr fiel etwas ein, was jemand ihr gesagt hatte. Lloyd hatte es ihr gesagt, falls eines der Kinder einen Unfall hatte und er nicht da
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