Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Spanisch lernte, während er es zu Anfang ihrer Ehe sogar für einen unnötigen Luxus hielt, Niederländisch zu lernen. Hatte er begriffen, daß sie sich weiterentwickeln wollte, daß ihr Bestreben dahin ging, ihm ebenbürtig zu sein, von ihm für voll angesehen zu werden? Oder viel wichtiger, sich selbst für vollwertig ansehen zu können? Sie fragte ihn.
“Unsinn”, sagte er, “ich habe dich nie zurückgehalten, etwas zu tun. Du konntest immer tun und lassen, was du wolltest.” Er sah sie lächelnd an, spöttisch, ein wenig herablassend, sich seiner Macht bewußt. “Wenn du lernst, kommst du zumindest nicht auf dumme Gedanken.” Als sie dann weiterfragte, was er damit meine, wehrte er ab, nichts Bestimmtes, halt die Flausen, die sie sich hin und wieder in den Kopf setzte, und vergrub sich hinter seiner Zeitung.
Ja, das Lernen vermittelte ihr eine Befriedigung und eine Bereicherung ihrer Sinne, die sie im Alltag nicht verspürte. Das war bei ihrem Journalistikstudium das gleiche gewesen wie jetzt beim Spanisch. Da waren in der spanischen Literatur Sätze, die sie wieder und wieder las, bis sie sie begriff, bis sie sie so fühlen konnte, daß sie ihr direkt ins Blut gingen. Darüber konnte sie nachdenken, die Augen schließen, und versuchen, den Geruch in den Straßen von Macondo einzusaugen oder eine Abenddämmerung mit den Augen von Márquez zu sehen.
Sie versuchte, mit Hubert über Bücher zu reden, aber außer Perry Rhodan interessierte ihn nichts. “Ich muß tagsüber schon genug Papierkram wälzen”, sagte er, “dann will ich mich abends entspannen.”
Natalie konnte wie sie seit ihrer Kindheit Bücher verschlingen, nur Manfred konnte dieser Leidenschaft nichts abgewinnen. Seine angeborene Legasthenie war für ihn, trotz zahlreicher Nachhilfestunden, ein großes Handikap. “Ich will nicht mehr studieren”, hatte er vor einigen Monaten bekannt. “Ich weiß im Moment überhaupt nicht, was ich will.” Seit seiner Trennung von Maja hatte er sich noch nicht wieder richtig gefangen. Gaby befürchtete das Schlimmste, Drogen, Abhängigkeit, sie sah ihren Sohn abgleiten. “Du liebst es, dir Sorgen zu machen”, Hubert schüttelte unwillig den Kopf über sie. “Laß ihn doch. Eines Tages wird er wissen, was er will.” Seine Gleichgültigkeit erschreckte sie. Nichts berührt ihn wirklich, dachte sie wieder, nichts geht ihm unter die Haut. Großzügig steckte er Manfred hin und wieder ein paar Scheine zu und glaubte, damit alles Nötige getan zu haben. Sie hätte sich vielleicht nicht so viele Gedanken gemacht, wenn Manfred sein Vagabundenleben genießen würde, aber er sah schlecht aus, blaß, hohlwangig und hatte trotz wechselnder, lukrativer Jobs, stets Geldprobleme. Irgend etwas stimmt mit ihm nicht, ahnte sie, und wünschte, sie hätte ihre Sorgen mit ihrem Mann teilen können. Aber er blockte ab. “Deine Schwarzseherei, totaler Unsinn, man kann sich auch Gedanken über nichts machen.” Aber es ging um ihren Sohn.
Und wie bei Natalie spürte sie, daß er noch nicht bereit war, sich helfen zu lassen. Sie schrieb ihm Briefe, manche kamen zurück, weil er schon wieder seine Wohnung gewechselt hatte, aber sie schrieb immer wieder. “Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da.” Nicht mehr, sie wußte, daß es genug war. Wenn er soweit war, würde er ihre Hand nehmen.
Als Kind hatte sie oft verzweifelt gedacht: Ich möchte eine Hand haben, eine einzige Hand, die mir hilft und mir den Weg zeigt. Jetzt, als Erwachsene, hatte sie Hubert. Er reichte ihr immer wieder seine Hand, seinen Arm. Wieso hatte sie gerade dann das Gefühl, stets tiefer wegzusinken in einen Morast von Undeutlichkeiten, Zweifeln, Ängsten? Und sie hatte natürlich ihre Freundinnen, mit denen sie stets mehr über wirkliche Gefühle reden konnte. Konnte sie es wirklich? Mit Jean: ja, seit sie mit ihr über ihre Jugend gesprochen hatte, hatte ihre Freundschaft eine andere Dimension erfahren. Jean erzählte von früher, wie häßlich und ungeliebt sie sich neben ihrer hübscheren, jüngeren Schwester vorgekommen war. Wie sie sich in Todesangst vor dem gewalttätigen Bruder einer Freundin unter dem Bett versteckt hatte; wie einsam man auch in einer großen Familie sein kann. Und Gaby begriff, daß nicht nur ihre eigenen Erfahrungen schmerzende Narben hinterlassen hatten.
Mit Ursel konnte sie nicht mehr so gut reden. Nachdenklich sah sie Gaby oft an, wenn diese kleine Begebenheiten mit Hubert erzählte. Zweifelte sie an ihren Worten?
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