Zuflucht Im Kloster
hörte man von der anderen Seite des Stalls den Klang erschöpfter Stimmen. Das Gitterwerk war jetzt gut zu sehen. Die Entfernung des einen Stabes hatte eine Öffnung entstehen lassen, die groß genug für eine Katze war, nicht aber für jemanden, der größer und weniger gelenkig war. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel färbte sich langsam heller.
Gesichert durch das Seil, die halbnackten Zehen in einen Holzspalt gestemmt, arbeitete Liliwin verbissen weiter. Als er damit begann, den zweiten Gitterstab zu lösen, machte sich Cadfael in weitem Bogen auf den Weg zu Hugh Beringar, um ihm Bericht zu erstatten.
»Weiß der Himmel – es ist unglaublich, aber der Junge weiß, was er tut. Eine Katze schätzt die Größe eines Loches mit Hilfe ihrer Schnurrbarthaare – er hat dafür anscheinend andere Mittel. Ich bin sicher, daß er es schafft. Aber Ihr müßt sie unbedingt an dieser Seite ablenken.«
»Übernehmt Ihr das für eine Weile«, sagte Beringar und trat, ohne die Luke aus den Augen zu lassen, zurück. »Nur für ein paar Augenblicke… Eine neue Stimme wird sie aufhorchen lassen.« Wie zuvor waren Cadfaels Versuche, die beiden dort oben zum Aufgeben zu bewegen, vergeblich. Der Stimme, die ihm antwortete, war die Müdigkeit anzumerken, aber dennoch klang sie trotzig und entschlossen.
»Wir werden nicht von hier weichen«, sagte Cadfael, dessen Sorge um Liliwin und Rannilt größer war als seine eigene Müdigkeit, schließlich, »bis die Körper und Seelen derer, die hier sind, ihren Frieden und ihre Freiheit haben – sei es in dieser Welt oder in einer anderen. Und wer das verhindern will, über dessen Haupt komme, was geschehen muß! Dennoch ist Gottes Gnade unendlich, für die, die sie suchen, und sei es auch noch so spät und noch so zaghaft.«
»Bald wird die Sonne aufgehen«, sagte Beringar im selben Augenblick zu Alcher, dem besten Bogenschützen unter seinen Männern, der seine Position schon lange mit Bedacht gewählt hatte und keine Veranlassung sah, sie zu ändern. »Macht Buch bereit, einen Pfeil in die Luke zu schießen und den zu treffen, der gerade dort sitzt, sobald ich den Befehl dazu gebe. Aber wartet unbedingt den Befehl ab, und betet zu Gott, daß ich nicht gezwungen bin, ihn zu geben!«
»Natürlich«, antwortete Alcher, ohne seine Augen von dem Ziel abzuwenden. Die dunkle Öffnung in der Wand über der Stalltür war jetzt deutlich zu sehen.
Als Cadfael wieder an der Rückseite des Stalls stand, war das Lüftungsloch nicht mehr vergittert, sondern eine kleine, quadratische Öffnung unter dem Giebel. Die Gitterstäbe lagen unten im hohen Gras. Liliwin hatte einen Arm durch die Öffnung gestreckt und schob so leise wie möglich das Heu beiseite, damit er hineinkriechen konnte. Alles hing jetzt davon ab, daß Rannilt keine unbedachte Bewegung machte oder gar aufschrie, wenn er sich ihr von hinten näherte. Es war jetzt höchste Zeit, vorn für so viel Ablenkung wie möglich zu sorgen – am besten vielleicht durch Drohungen. Aber Cadfael konnte nicht anders als mit angehaltenem Atem zusehen, wie Liliwin Kopf und Schultern durch die Öffnung schob, die kaum groß genug für ihn schien, und den Rest seines Körpers in einer gewandten, fließenden Bewegung nachzog. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Cadfael eilte um das Gebäude herum zu einem Punkt, an dem man ihn von der Luke aus nicht sehen konnte, und winkte Beringar zu, zum Zeichen, daß der Augenblick der größten Gefahr gekommen war. Alcher sah das Signal vor Beringar, spannte seinen Bogen und kniff die Augen zusammen, um sein Ziel – ein dunkelbraunes Wams mit einem helleren Gesicht darüber – besser erkennen zu können. Hinter ihm stieg die Sonne gerade über den Horizont, und ihre ersten Strahlen fielen auf den Dachgiebel. In einer Viertelstunde würde ihr Licht in die Luke fallen, und dann würde der Pfeil sein Ziel nicht verfehlen.
»Iestyn«, rief Beringar und winkte den Männern, die ihm am nächsten standen, einige Schritte vorzutreten, »Ihr habt eine Nacht Bedenkzeit gehabt. Nehmt jetzt Vernunft an und kommt freiwillig heraus! Ihr seht ja, daß Ihr uns nicht entkommen könnt, und Ihr seid sterblich und müßt essen wie alle anderen Menschen auch. Dieser Stall ist keine Freistatt, und Ihr genießt keine vierzig Tage Asyl.«
»Auf uns wartet nur der Galgen«, schrie Iestyn zurück, »das wissen wir nur zu gut. Aber wenn das unser Ende sein soll, dann schwöre ich Euch, daß das Mädchen vor
Weitere Kostenlose Bücher