Zum Glück Pauline - Roman
ich jetzt gar nichts mehr, ein zartes Gefühl der Selbstsicherheit stieg in mir auf, ich wusste, ich durfte sie berühren, zwischen ihre Schenkel fassen, nun war alles möglich, selbst scharfer Sex. Ich ging auf sie zu und streichelte ihre Haare, sie vergrub ihr Gesicht in meinem Bauch, und ich spürte, wie eine Hand an meinem Bein entlang fuhr: Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Als wir uns hinlegten, knarzte das Bett.
«Die Betten müssen auch ausgetauscht werden», meinte sie.
«Ja. Wir werden überall mal Probe liegen, die wichtigen Dinge zuerst.»
Ich sagte zu ihr: «Zieh dich aus», und sie zog sich aus. Ich betrachtete ihren Körper, der mir seltsam vertraut erschien. Vielleicht wegen des Traums, aber nein, ich denke nicht, dass ich Pauline im Traum nackt gesehen habe. Man bezieht Déjà-vu-Erlebnisse meist auf Situationen und Orte. Oder auf Wände. Man sieht etwas zum ersten Mal und hat das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben. So erging es mir mit Paulines Körper. Ich hatte dieses Land schon einmal gesehen. Instinktiv wusste ich, wo es langging. Ich brauchte keinen Reiseführer. Sie sagte zu mir: «Zieh dich aus», und ich zog mich aus. Auf meinem Oberkörper entdeckte sie eine Narbe. Ich hatte mit sechzehn eine Herzoperation gehabt. Sie strich ein paar Mal mit dem Finger über die Wunde und sagte dann: «Eine schöne Narbe.» Und sie fügte noch hinzu: «Erinnert mich an die Berliner Mauer.» Noch so eine treffende Bemerkung. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sich in mir zwei feindliche Blöcke gegenüberstanden. Hier der Traum, dort die Realität. Hier die Kunst, dort die konkreten Anforderungen des Lebens. Meine Rückenschmerzen hingen sicher auch mit dieser inneren Teilung zusammen. Die Spaltung, die Unmöglichkeit, mich wiederzuvereinen, hatte mich aufgefressen. Indem Pauline mit ihrem Finger über die Narbe strich, verschmolz ich wieder zu einer Einheit. Sie flickte mich zusammen.
Ich dachte, wir könnten gemeinsam nach Berlin fahren. Berlin war unser Talisman. Es gibt so etwas wie eine Geographie der Liebe. Ich war vollkommen gelöst, als sich plötzlich das Gesicht von Élise unter mein Glück mischte. Irgendetwas in mir fand es komisch, dass ich mich auf einmal an eine andere Frau schmiegte. Es musste sich um den nichtanimalischen Teil von mir handeln, den Teil, der gern die Bürde eines ganzen Lebens auf sich nahm. Élise war für mich ein Symbol der Frau, und nun lag es wie ein Phantom neben mir. Einer langen Vergangenheit entwischt man nicht so leicht. Irgendwann besaß Élise die Freundlichkeit, sich zu entfernen, und mein Kopf war frei. Pauline entführte mich in neue unbekannte Gegenden. Unsere erotische Vereinigung war ohne Scham. Meine Zunge strich über ihren Körper, ich wollte ihr alle erdenkliche Lust bereiten. Der Liebesakt dauerte lange und erinnerte an die Eroberung einer neuen Welt. Ich lag auf ihr, und Pauline klammerte sich an meinem Rücken fest. Das heißt: Sie krallte sich an meinem Rücken fest. Von Zeit zu Zeit schauten wir uns an, nicht um nach dem Verlangen im Gesicht des anderen zu sehen, sondern um sicherzugehen, dass das alles auch wahr war. Es war wahr.
Wir hielten uns die ganze Nacht umschlungen und schauten uns verliebt an, ab und zu schliefen wir auch ein. Wann hatte sich mein Körper das letzte Mal so entspannt? Ich war geheilt. Ich fühlte mich so wohl, dass ich das Gefühl hatte, dass meine Rückenschmerzen lange zurücklagen. Sie schienen irgendwie in mir verwurzelt und waren vor einiger Zeitzum Ausbruch gekommen. Mit den Jahren und Problemen hatte mein Rücken sich zugeschnürt. Indem ich diese Last abwarf, begann eine neue Zeitrechnung. Doch es war noch nicht alles vorbei. Ich hatte zwar die Dinge mit meinen Eltern, die mit meinen Kindern, der Arbeit und in gewisser Hinsicht auch die mit meiner Frau gelöst, aber die Vergangenheit zwickte immer noch. Ich brauchte noch ein wenig Zeit, um einer letzten Sache auf die Spur zu kommen, die mich bedrückte.
Als der Morgen graute, küsste mich Pauline zärtlich und stahl sich zu meiner großen Überraschung wortlos davon. Ich dachte mir, vielleicht wollte sie nach einer magischen Nacht dem Erwachen entgehen. Womöglich scheute sie das Tageslicht und den Moment, wo man wieder sprechen muss. Von mir aus hätte sie ruhig bleiben dürfen. Aber so war es nun einmal. In meinem Alter versucht man nicht mehr, alle weiblichen Verhaltensweisen zu ergründen. Doch nach einigen Minuten überkamen mich
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