Zum Glück Pauline - Roman
sich nicht fortpflanzen zu müssen. «Kinder in eine solche Welt setzen? … Das wäre ja kriminell!» Anfangs hatte sie geglaubt, er würde seine Meinung bestimmt noch ändern, aber nein, sein Standpunkt blieb unerschütterlich. Je mehr er von der Welt sah, desto weniger verstand er seine Freundin. Pauline schilderte das alles ohne einen Hauch von Verbitterung, fast unbeteiligt. An einigen Stellen hatte ich sogar den Eindruck, sie spreche gar nicht von sich selbst, sondern von einer fiktiven Heldin. Manchmal erscheint die Vergangenheit eben wie eine Fiktion.
Jemanden kennenlernen heißt: viel erzählen. Nach und nach gaben wir unseren Fremdenstatus auf. Ich war nur ein paar Jahre älter als sie, hatte aber schon zwei erwachsene Kinder. Das schien sie zu faszinieren. Sie stellte mir allerlei Fragen bezüglich Paul und Alice, auf die ich versuchte, in meiner Funktion als Beauftragter meiner Vergangenheit zu antworten und dabei die des Vaters auszublenden. Ich berichtete ihr vom passiven Niedergang meiner Beziehung zu Élise. Zuletzt waren wir wie durch eine Mauer getrennt. Sie lebte auf der einen Seite (ihr Vater), ich auf der anderen Seite der Mauer (mein Rücken). Wir waren wie ein Land, das unter mehreren Besatzungsmächten aufgeteilt ist; eine Besatzungsmacht hieß der Überdruss.
«Sie sind lustig», unterbrach sie mich.
«Finden Sie? Ich komme mir gerade eher düster vor.»
«Ja, Sie sind auch düster. Mir gefällt diese Mischung.Wenn man Ihnen zuhört, fragt man sich, ob Sie die Geschichte nun selber erlebt oder nur so eingefädelt haben …»
«…»
Sie hatte ja so recht. Das hatte ich mich auch ständig gefragt. Alles, was in letzter Zeit passiert war, hing irgendwie mit meinen Rückenschmerzen zusammen. Und ich konnte schwer einschätzen, inwieweit ich Entscheidungen fällte und inwieweit die Schmerzen mich zu diesen Entscheidungen trieben. Ich konnte nicht sagen, welchen Anteil mein freier Wille an all dem hatte. Ich sah mich oft als Opfer der Umstände, als hätte ich überhaupt keinen Einfluss auf die Wirklichkeit. Aber so war es natürlich nicht. Wenn ich nun hier saß, dieser Frau gegenübersaß, hieß das, dass ich die richtigen Entscheidungen getroffen hatte. Mein Rücken war lediglich mein Assistent in einer Übergangszeit, der die anstehenden Veränderungen gewaltig angeschoben hatte. Was ich jetzt erntete, waren die Früchte dessen, was eines Sonntags bei einem Mittagessen mit Freunden begonnen hatte.
* Ja, ich erfuhr ihren Namen: Pauline. Ich war irgendwie überrascht, als ich ihn zum ersten Mal hörte. Ich hatte mir gedacht, sie würde bestimmt Caroline oder Amandine heißen, keine Ahnung, wieso.
4
Intensität der Schmerzen: 0,5
Gemütslage: angehend
5
Wir waren gewillt, uns wiederzusehen. Alles hätte so einfach sein können. Doch das ist es selten. Wenn zwei Menschen zum ersten Mal zusammen Walzer tanzen, fehlt meist noch das Gefühl für den Rhythmus. Was mir anfangs noch so klar erschienen war, erwies sich schnell als Nebelmaschine. Ich stellte wieder alles infrage. Sollte ich gleich anrufen und die Gefahr in Kauf nehmen, die Ereignisse möglicherweise zu überstürzen? Sollte ich lieber ein paar Tage warten auf die andere Gefahr hin, uninteressiert zu wirken? Was ist das ideale Timing für einen solchen Anruf? Ich hatte keine Ahnung. Ich glaube, man schlüpft nicht so leicht in die Haut des Verführers, wenn man vierzig ist und gerade einer Scheidung entgegensieht. Ich war das alles nicht mehr gewohnt. Feste Beziehungen schläfern das Flirtpotenzial ein. Mein Herz war durch die Monotonie ausgepumpt und hatte den Körper bereits verlassen. Ich fühlte mich in die frühe Jugendzeit zurückversetzt, in der Frauen mich im gleichen Maße fasziniert wie eingeschüchtert hatten. Es war verrückt, es musste doch alles ganz leicht gehen. Ich rief sie an und hinterließ eine Nachricht. Mein Vorschlag lautete, morgen Abend essen zu gehen. Okay, antwortete sie (zum Glück reagierte sie umgehend; ich hasse Frauen, die immer so tun, als wären sie furchtbar beschäftigt, und sich erst drei Stunden spätermelden). Nachdem dies geklärt war, war die Sache aber noch lange nicht gegessen. Jetzt musste ich noch ein geeignetes Restaurant aussuchen. Glück ist ein strapaziöses Unterfangen.
Es war lächerlich, sich wegen solcher Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Das Restaurant schien für Pauline überhaupt keine Rolle zu spielen. «Hauptsache, man macht etwas zusammen», war wohl die
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