Zungenkuesse mit Hyaenen
KERN
Einen Trumpf hatte ich noch im Ärmel, und ich würde ihn vorerst dort belassen. Gritlis Recherchen nutzten mir. Sie sah klar, sie war auf dem aktuellen Stand, sie verfügte über weibliche Intuition und stand außerhalb meiner Verstrickungen. Zu Müller, gut, darüber könnte man reden, zu Müller könnte ich sie mitnehmen, jetzt war sie ja kein Krüppel mehr, den er hassen musste, jetzt war sie eine attraktive Blonde mit schönen Beinen, sie wäre hier also eher als Lockvogel zu gebrauchen. Zu Big Ben aber musste ich allein gehen. Ich musste ihn zur Rede stellen, mich mit ihm aussprechen, ihm viele Fragen stellen. Seine und Müllers Mona war ja auch meine Mona, Mutter war unser aller Mona.
Es klingelte. Herr Puvogel stand vor der Tür. »Erst mal Glückwunsch zur Unschuld«, sagte er, vermutlich ohne jeden Doppelsinn.
»Danke!«
»Wie Sie wissen, ist meine Frau ... meine Exfrau – geständig. Ich werde, so lange sie außer Gefecht ist, die Geschäfte im Leuchtturm führen.«
»Möchten Sie nicht hereinkommen?«
»Nein, ich bin in Eile. Haben Sie eine Minute Zeit? Ich würde Ihnen gern rasch etwas zeigen.«
Ich begleitete ihn.
»Sie waren schon mal im Keller?«, fragte Puvogel im Fahrstuhl.
»Bisher noch nicht«, sagte ich, »ich hatte so viel um die Ohren. Funktioniert die eigentlich?« Ich zeigte auf die Kamera im Fahrstuhl, die mir einst gewisse Harnverhaltungen abgenötigt hatte.
»Ja.«
»Ja? Ich hatte gehofft, das sei eine Attrappe.«
»Herr Rothe, ich weiß nicht, ob Ihnen meine – Exfrau mal einen kleinen Abriss der Geschichte dieses Hauses gegeben hat?«
»Die Geheimdienstsache?«
»Die Geheimdienstsache. Vor fünfzig Jahren, noch zur Zeit des Kalten Krieges, wurden die Apartments im Leuchtturm ausschließlich an zu überwachende Personen vermietet. Das waren zum Teil Wissenschaftler im Geheimhaltungsbereich, Personen mit strittigem politischen Hintergrund, aber auch Überläufer von anderen Geheimdiensten. Aus dieser Zeit stammt auch eine – nennen wir sie technische Petitesse, die ich Ihnen gleich zeigen werde. Ich ging davon aus, dass sie längst abgeschaltet wurde.«
Wir stiegen aus dem Fahrstuhl und liefen einen langen, dunklen Gang entlang. Herr Puvogel schloss eine Tür auf und drückte mir den Schlüssel in die Hand. »Sie sind doch Journalist, für Sie ist die Sache möglicherweise von Nutzen. Konzentrieren Sie sich auf Herrn Königstein. Beeilen Sie sich! Und schließen Sie ab, wenn Sie fertig sind.«
Weg war er! Als ich die Tür öffnete, erblickte ich eine riesige Videowand mit Dutzenden von Bildschirmen, davor einen Sessel, eine Schale mit Erdnussflocken und mehrere leere Schnapsflaschen.
BIG SISTER
Seit sie die schlimmste aller denkbaren Demütigungen hat hinnehmen müssen, das vorankündigungslose Schwulwerden ihres Ehemanns nämlich, ist Irene Puvogel vom Paarungsgeschäft enttäuscht und sucht sich ein neues Hobby. Sie hat immer schon gern gespannt, und der Sharon-Stone-Film »Sliver«, den sie sich zum Zeitvertreib aus der Videothek geholt hat, weil er in einem Hochhaus spielt, bringt sie auf die Idee, die alte Überwachungszentrale aus Geheimdienstzeiten wieder zu aktivieren. Verwanzt sind alle Wohnungen von Baubeginn an. Die Kameras und Mikrophone sitzen in den Lüftungsschächten. Sie brauchen nur etwas Justierung und Instandhaltung. Frau Puvogel sucht sich die zwanzig interessantesten Wohnungen aus und widmet sich von nun an, in Ermangelung eines eigenen Liebeslebens, dem der anderen. Und nicht nur dem.
Sie sieht den Vater im dritten Stock sein Kind verprügeln, sie sieht die Frau im zehnten Stock, die nackt mit fünf Katzen in einem Bett schläft, sie sieht Menschen baden, essen, schlafen, streiten. Sie sieht Felicitas Müller mit Béla Schlosser vögeln, sieht David mit ihrem Exmann nackt im Drogenrausch, Gritli, wie sie die Krücken, sobald sie die Wohnung betreten hat, achtlos in die Ecke wirft, und sie beobachtet Michael, den Nachmieter der Roten Müllerin, wie er mit Lockenperücke auf den roten Pumps seiner Vormieterin herumstöckelt. Sie weiß, dass Klarhabbisch manchmal im Lagerraum des Leuchtturmbistros eine Nutte mit goldenen Strapsen empfängt. Sie weiß alles. Sie ist Gott. Die Alleswisserin und Nichtsverraterin vom Leuchtturm: Big Sister Is Watching You. Irene Puvogel verbringt täglich nach Büroschluss bis zu sechs Stunden im Keller, und wenn sie Marillenmarmeladenbesuche in den einzelnen Wohnungen macht, kann es schon vorkommen, dass sie die
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