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Zungenkuesse mit Hyaenen

Zungenkuesse mit Hyaenen

Titel: Zungenkuesse mit Hyaenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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nicht zu frieren.
    »Was ist denn das für ein Gebäude dort?« Ich zeigte auf einen schwarzen Kasten.
    »Das ist der Ort, wo wir nicht hinwollen, wir Freiheitsliebenden. Die Justizvollzugsanstalt. Der Schwarze Bunker.«
    »Das ist der Schwarze Bunker? Das ausbruchssicherste Gefängnis des Landes? Ich hab davon gehört.«
    »Ja, genau«, sagte David, »die Titanic war auch unsinkbar.«
    Schweigend blickten wir beide auf den Schwarzen Bunker.
    »Man sieht sich, King Michael«, sagte David, grinste, richtete den Zeigefinger wie eine Pistole auf mich, führte ihn dann zum Mund, pustete drauf und verschwand.
    Vor nur vier Stunden war ich angekommen, und jetzt hatte ich schon eine Wohnung und einen Nachbarn. Überdies war Frau Puvogel in mein Leben getreten. Sie löste nahtlos meine Mutter ab, ohne die ich bisher keinen einzigen Tag verbracht hatte. Unfassbar. Kaumhatte ich die eine Mutter abgeschüttelt, tat sich eine neue auf. So unähnlich sich die beiden Frauen auch waren, Mutter die strenge, nach einem Ernteunfall humpelnde Offizierstochter, Frau Puvogel die dralle, schlüpfrige Bürgersfrau – fast schienen sie mir Allegorien auf Grimmelshausen und Rizz zu sein.
    Für Mutter wäre das ein Desaster, diese spielerische Austauschbarkeit ihrer Person, genauso wie für sie mein Aufbruch ein Desaster war, aber für mich war es tröstlich. Während ich Mutters Bohneneintopf kalt aus der Tupperdose löffelte, inspizierte ich mein neues Reich. Küche, Flur und Bad waren winzig. Das einzige Zimmer war geschätzte 30 Quadratmeter groß, auf dem Tisch stand eine Vase mit vertrockneten Rosen. Die Wände waren kahl, der Fernseher stand auf dem Boden. Der wuchtige alte Schrank reichte bis zur Decke und war verschlossen. Ich blieb minutenlang davor stehen, neugierig wie ein Affe. Tingeltangel. Ich sagte das Wort halblaut vor mich hin, schüttelte dann den Kopf und rief laut: »Nein, nein!« Das tat man nicht. Das ging mich nichts an.
    Wir Freiheitsliebenden, hatte David gesagt. Woher wusste er, dass meine Freiheitsliebe über meine Mutterliebe gesiegt hatte? Oder hatte er gar nicht mich gemeint, sondern alle, die waren wie er und seinesgleichen? Ich zog meinen Schlafanzug aus dem Rucksack und legte ihn ausgebreitet aufs Bett: das Oberteil, daneben die Hose. Dann trat ich wieder hinaus auf den Balkon und holte tief Luft, berauscht von der Höhe, vom Licht, von meinem eigenen Abenteuer. Der Wind hatte sich gelegt. Große Schneeflocken tanzten und schmolzen auf meinem Gesicht, als wollten sie mich streicheln. Ich beugte mich vorsichtig über die Brüstung und studierte Davids Balkon. Er sah auf schräge Art behaglich aus. Der Boden war mit Kunstrasen ausgelegt. Ein Gartenstuhl stand dort und Topfpflanzen aus Kunststoff – alles mit Schnee bedeckt. Davids Balkon war wohnlicher als die Wohnung der Bestsellerautorin. Seine Fenster waren dunkel, er war wohl ausgegangen.
    Mein Balkon war gänzlich unbewohnt. In der Ecke standen leere Flaschen. Halt, in einer war noch was drin. Moët & Chandon, halbvoll und verkorkt. Ich hatte erst einmal im Leben Champagner getrunken, vor einem halben Jahr zu Mutters fünfzigstem, und war enttäuscht gewesen von der Gammeligkeit des Geschmacks. Als ich nach der Flasche griff, fiel sie mir entgegen. Das Glas war in der Eiseskälte zersprungen, der Inhalt stand nun gefroren vor mir. Ich griff nach dem Eiskegel und leckte und knabberte daran. Es schmeckte säuerlichherb und prickelte auf der Zunge. Das war der Champagner der Bestsellerautorin, sie hatte ihn nicht mehr trinken können. Beide hatten den Zustand geändert, der Champagner und die Autorin. So war das Leben: Sie war tot, und ich lebte. Ich biss ein Stück vom Eis ab, noch eins und noch eins, es schmeckte! Ich rülpste herzhaft, denn Mutter war nicht hier, um mich zu ermahnen.
    Mutter! Sie hatte mir jeden möglichen Stein in den Weg gelegt, um mein Flüggewerden zu verhindern. Warum hinaus in die Welt? Sie brauche mich doch, vor allem jetzt, nach Vaters Tod. Ihr Beinleiden, wie sollte sie ohne mich zurechtkommen? Ich könne doch ebenso gut zu Hause einen Beruf ergreifen! Festangestellter Redakteur beim Grimmelshausener Anzeiger etwa, oder Medizin studieren, dann zurückkommen und die Praxis von Doktor Wogenstein übernehmen. Speziell Rizz schien Mutter ein rotes Tuch. Auch meine Idee, unter die Fittiche von Big Ben zu kriechen, erweckte ihr ungezügeltes Missfallen. Aber seit ich im Grimmelshausener Anzeiger die Annonce gelesen hatte: »

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