Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)
der galoppierenden Hirsche.
Frida nutzte meine Unaufmerksamkeit blitzschnell aus und rannte prompt hinterher. Befehle sind ja auch nur dann gültig, wenn Augenkontakt besteht: Dreht man sich weg, dann gelten sie sofort als aufgehoben – das scheinen jedenfalls die grauen Zellen eines Hundegehirns abzuleiten.
„Frida!“ Ich stürzte mich sofort in die Verfolgungsjagd, denn wenn sie erst einmal weg wäre, würde ich sie wahrscheinlich nicht mehr bremsen können.
Jahre zuvor war ich wie schon so oft mit meiner Hündin durch einen weitläufigen Park spaziert, als ein Vollidiot nachmittags gegen vier Uhr ohne Vorwarnung Feuerwerk anzündete. Es hörte einfach nicht mehr auf, zu knallen und zu pfeifen. Vor Schreck drehte der Hund vollkommen durch und rannte los: ganz egal, wohin – einfach mal los. Wäre es nur ein einziger Knall gewesen, dann hätte ich noch rechtzeitig reagieren können, aber es hörte eben einfach nicht mehr auf, zu lärmen.
Ich war schreiend hinterhergerannt, denn ich wusste, dass sich am Ende des Parks die Autobahnauffahrt befand. In der Verzweiflung schrie ich dauernd Fridas Namen und plötzlich stellte ich fest, dass ich „Gott! Bitte, hilf mir!“ schrie. Das war untypisch für mich.
Ich hatte kurz zuvor ein interessantes Buch gelesen, über die Existenz Gottes. Auf der letzte Seite hatte gestanden: „Falls Sie immer noch zweifeln, ob es einen Gott gibt, dann bitten Sie ihn einfach, Ihnen ein deutliches Zeichen zu geben.“
Als ich nach zehn endlosen Minuten Rennen an der vierspurigen Straße ankam, begegnete ich einem unfreundlichen Mann. Atemlos und vor Verzweiflung fast weinend fragte ich ihn mit brüchiger Stimme, ob er einen Hund gesehen hätte.
Seine erste Antwort lautete: „Wieso lassen Sie ihn überhaupt frei?“
„Weil ich im Park war – dort gibt es keinen Leinenzwang! Haben Sie den Hund gesehen?“
„Ja, er wollte die Straße hier bei den Zebrastreifen überqueren. Das Lichtsignal war aber rot und die Autokolonne bewegte sich, also ist er zurückgerannt und hat die Straße weiter oben überquert. Er hat sogar nach links und nach rechts geschaut, bevor er zwischen den Autos verschwand.“
Es war Freitag und der starke Abendverkehr hatte schon begonnen – ich war mir sicher, dass Frida überfahren worden war. Ich rannte zurück zu der Stelle, auf die der Mann gedeutet hatte und sah dort nichts außer der rollenden Blechlawine. Dort war es unmöglich, die Straße zu überqueren, also rannte ich wieder zurück zum Lichtsignal und wartete unruhig. Erst als das Lichtsignal grün wurde, war es mir überhaupt möglich, über die Straße zu kommen. Mir war klar, wohin der Vierbeiner wollte: nach Hause. Also rannte ich ebenfalls dorthin und fand Frida blutend vor dem Hauseingang – aus ihrer Schnauze lief weißer Schaum. Voller Panik nahm ich sie auf den Arm und rannte zur Tierklinik – die war in der Nähe des Parks und zu Fuß schneller zu erreichen.
Frida wurde sofort empfangen und geröntgt. Anschließend sagte mir der Tierarzt: „Sie hat nichts, nur einen Schock. Das Blut kommt daher, dass sie so schnell gerannt ist und sich dabei die Fußballen komplett aufgeschürft hat. Und – was sagten Sie? Sie hat die vierspurige Straße überquert?“
„Ja, so ist es. Ich glaube, Frida hatte einen Schutzengel.“
Frida durfte ohne Leine im Wald spazieren, weil ich wusste, dass sie keinem Lebewesen etwas antun würde. Sie war losgerannt, aber es handelte sich nur um eine symbolische Verfolgung – hätte sie einen Hirsch erreicht, dann hätte sie einen Meter vor dem Wild eine Vollbremsung eingelegt und angefangen, zu bellen. Ich glaube, ihr waren ihre Körper-Proportionen gar nicht bewusst.
Sie war ein kleiner Mischling und sie reagierte immer auf diese Art – ganz egal, wie groß ihr Gegenüber war. Das war die Spiegelung ihres Selbstwertes: Sie fühlte sich einfach wie die Größte – vermutlich auch deshalb, weil ihr niemand jemals zu verstehen gegeben hatte, dass sie das nicht sei.
Sie hatte eine „schwierige Jugend“ gehabt: Sie war ein Straßenhund in einem Land im Süden gewesen, ohne Futter und ohne ein Zuhause. Sie war auf der Straße geboren worden, war dort aufgewachsen und hatte dort gejagt. Und trotzdem war sie allen freundlich gesinnt und hatte sich prächtig entwickelt – als ob es von der Natur genetisch vorgegeben sei, dass sie über ein gesundes Selbstwertgefühl verfügte. Resilienz ist die Fähigkeit eines Individuums, trotz ungünstiger
Weitere Kostenlose Bücher