Zusammen ist man weniger allein
geerbt. Stell dir vor, eines Tages, als er noch keine acht Jahre alt war, zeichnete er eine Blüte, eine einfache Lotusblüte, die auf einem Teich schwamm. Seine Zeichnung war sehr schön, so schön, daß seine Mutter beschloß, sie im Salon aufzuhängen. Sie behauptete, dank der Zeichnung spüre man eine frische Brise in dem großen Raum, und man könne die Blume sogar riechen, wenn man an ihr vorbeiging. Kannst du dir das vorstellen? Daß man sie sogar riechen konnte! Und seine Mutter war gewiß sehr anspruchsvoll. Mit einem Ehemann und einem Vater als Maler hatte sie schon allerhand gesehen.«
Er beugte sich erneut über seinen Tee.
»So wuchs Ta in der Sorglosigkeit, der Freude und der Gewißheit heran, eines Tages ebenfalls ein großer Künstler zu werden. Doch ach, als er achtzehn war, übernahmen die Mandschu die Macht von den Ming. Die Mandschu waren grausame und brutale Menschen, die Maler und Schriftsteller nicht mochten. Folglich untersagten sie ihnen zu arbeiten. Das war das Schlimmste, was man ihnen antun konnte, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Familie von Chu Ta sollte keinen Frieden mehr erleben, und sein Vater starb vor Verzweiflung. Von einem Tag auf den anderen tat sein Sohn, der ein Lausebengel war und gerne lachte, sang, Dummheiten erzählte und lange Gedichte aufsagte, etwas Unglaubliches. He, wer kommt denn da?« fragte Mister Doughton und begann absichtlich eine lange einfältige Unterhaltung mit seiner Katze, die sich auf die Fensterbank gesetzt hatte.
»Was tat er?« flüsterte sie schließlich.
Er verbarg sein Lächeln in seinem buschigen Bart und fuhr fort, als wäre nichts gewesen:
»Er tat etwas Unglaubliches. Etwas, das du nie erraten wirst. Er beschloß, für immer zu schweigen. Für immer, hörst du? Kein einziges Wort sollte ihm je wieder über die Lippen kommen! Er war angewidert vom Verhalten seiner Mitmenschen, die sich von ihren Traditionen und ihrem Glauben lossagten, um bei den Mandschu gut angesehen zu sein, und wollte nie wieder das Wort an sie richten. Sollten sie zum Teufel gehen! Alle! Diese Sklaven! Diese Feiglinge! Er schrieb das Wort Stumm auf seine Haustür, und wenn gewisse Leute dennoch versuchten mit ihm zu reden, entfaltete er vor seinem Gesicht einen Fächer, auf den er ebenfalls Stumm geschrieben hatte, und wedelte damit in alle Richtungen, um sie zu vertreiben.«
Das kleine Mädchen hing an seinen Lippen.
»Das Problem ist, daß niemand leben kann, ohne sich mitzuteilen. Niemand. Das ist unmöglich. Also hatte Chu Ta, der wie jedermann, wie du und ich beispielsweise, viel zu erzählen hatte, eine geniale Idee. Er ging in die Berge, weit weg von all den Menschen, die ihn verraten hatten, und fing an zu zeichnen. Von nun an wollte er sich auf diese Weise mitteilen, mit dem Rest der Welt kommunizieren: mit Hilfe seiner Zeichnungen. Willst du sie sehen?«
Er holte ein großes schwarzweißes Buch aus seiner Bibliothek und legte es vor sie hin:
»Sieh nur, wie schön sie sind. Wie einfach. Nur ein Strich, und schon hast du … eine Blume, einen Fisch, einen Grashüpfer … Sieh dir diese Ente an, wie verärgert sie aussieht, und diese Berge dort, im Nebel. Sieh nur, wie er den Nebel gezeichnet hat, als wäre er nichts, nur Leere. Und diese Küken hier? Sie wirken so zart, daß man Lust hätte, sie zu streicheln. Siehst du, seine Tusche ist zart wie ein Flaum. Seine Tusche ist sanft.«
Camille lächelte.
»Willst du, daß ich dir beibringe, so zu zeichnen?«
Sie nickte.
»Willst du, daß ich dir das beibringe?«
»Ja.«
Als es soweit war, als er ihr gezeigt hatte, wie sie den Pinsel halten mußte, und ihr das mit dem so wichtigen ersten Strich erklärt hatte, blieb sie einen Moment ratlos sitzen. Sie hatte nicht ganz verstanden und glaubte, sie müßte die ganze Zeichnung in einem Zug ausführen, ohne die Hand hochzunehmen. Das war unmöglich.
Sie dachte lange über ein Motiv nach, sah sich um und streckte den Arm aus.
Sie machte einen langen, geschwungenen Strich, einen Buckel, eine Spitze, eine weitere Spitze, zog den Pinsel in einem langen Schwung nach unten und kehrte zum ersten Bogen zurück. Da ihr Lehrer nicht zusah, nutzte sie die Gelegenheit, um ein wenig zu schummeln, nahm den Pinsel hoch und fügte einen großen schwarzen Klecks und sechs kleine Striche hinzu. Sie wollte lieber ungehorsam sein, als eine Katze ohne Schnurrbart zu malen.
Malcolm, ihr Modell, schlief immer noch auf der Fensterbank, und
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