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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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Vorhang zur großen Szene.
    In der Regel wartete der Künstler bis nach dem Dessert, doch zugegeben, heute waren sie beim Chinesen, und ihre Mutter mochte die Krapfen, die Litschis und den anderen Süßkram nicht sonderlich.
     
    Ja, es nicht zu schwer nehmen.
    Das war eine schwierige Übung, aber Camille hatte ihr kleines Survival-Kit schon lange beisammen. Sie verhielt sich folglich wie immer und versuchte, sich zu konzentrieren und im Geiste ein paar Weisheiten herunterzubeten. Ein paar einfache und vernünftige Sätze. Hastig zusammengeschusterte Krücken, die es ihr ermöglichten, sie weiterhin zu sehen. Weil diese erzwungenen Verabredungen, diese absurden, destruktiven Unterhaltungen schließlich sinnlos wären, wenn sie nicht die Gewißheit hätte, daß ihre Mutter dabei auf ihre Kosten kam. Denn leider kam Catherine Fauque dabei voll auf ihre Kosten. Den Kopf ihrer Tochter als Fußabtreter zu benutzen war ihr eine Genugtuung. Und auch wenn sie ihre Treffen häufig verkürzte, indem sie die Beleidigte spielte, war sie dennoch stets zufrieden. Zufrieden und gesättigt. Nahm ihre Selbstgerechtigkeit, ihre pathetischen Triumphe und ihre Portion Gemeinheiten bis zum nächsten Mal mit.
     
    Camille hatte lange gebraucht, um dahinterzukommen, und sie war überdies nicht allein dahintergekommen. Sie hatte dabei Hilfe erhalten. Einige Menschen in ihrem Umfeld, vor allem früher, als sie noch zu jung war, um das Verhalten der Mutter zu durchschauen, hatten ihr Schlüssel an die Hand gegeben. Ja, aber das war früher gewesen, und all die Menschen, die über sie gewacht hatten, waren jetzt nicht mehr da.
    Und heute war sie dran, die Kleine.
    Und zwar richtig.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    8
     
     
     
    Der Tisch war abgeräumt worden, und das Restaurant leerte sich. Camille rührte sich nicht. Sie rauchte und bestellte einen Espresso nach dem anderen, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden.
    Ganz hinten im Lokal saß ein zahnloser Herr, ein alter Asiat, der mit sich selbst sprach und in sich hineinlachte.
    Die junge Frau, die sie bedient hatte, stand hinter der Theke. Sie trocknete Gläser ab und wies ihn von Zeit zu Zeit in ihrer Sprache zurecht. Der Alte machte ein verdrießliches Gesicht, schwieg einen Moment und nahm seine idiotischen Selbstgespräche wieder auf.
     
    »Schließen Sie?« fragte Camille.
    »Nein«, antwortete sie und stellte dem Alten eine Schüssel hin, »wir geben kein Essen mehr aus, aber wir haben weiter geöffnet. Wollen Sie noch einen Espresso?«
    »Nein, nein, danke. Kann ich noch etwas bleiben?«
    »Aber ja doch, bleiben Sie! Solange Sie da sind, ist er beschäftigt!«
    »Soll das heißen, daß ich ihn so zum Lachen bringe?«
    »Sie oder jemand anders.«
    Camille starrte den alten Mann an und erwiderte sein Lächeln.
     
    Die Beklemmung, in der ihre Mutter sie zurückgelassen hatte, wich allmählich. Sie lauschte dem plätschernden Wasser und Töpfeklappern, das aus der Küche drang, dem Radio, den unverständlichen Refrains mit ihren schrillen Klängen, die die junge Frau tänzelnd mitsang, sie beobachtete den Alten, der mit seinen Stäbchen lange Suppennudeln aus der Schüssel fischte und sich dabei das ganze Kinn mit Brühe verschmierte, und hatte plötzlich das Gefühl, sich im Eßzimmer eines richtigen Wohnhauses zu befinden.
     
    Außer einem Espresso und ihrem Päckchen Tabak lag nichts mehr vor ihr auf dem Tisch. Sie packte alles auf den Nachbartisch und fing an, das Tischtuch zu glätten.
     
    Langsam, ganz langsam, strich sie mit der flachen Hand über das minderwertige Papier, das spröde und stellenweise fleckig war.
     
    Minutenlang wiederholte sie diese Bewegung.
    Ihr Gemüt beruhigte sich, und ihr Herz fing an, schneller zu schlagen.
    Sie hatte Angst.
    Sie mußte es versuchen. Du mußt es versuchen. Ja, aber es ist schon so lange her, daß.
    Pst, flüsterte sie sich zu, pst, ich bin da. Es wird alles gutgehen, Herzchen. Ganz ruhig, jetzt oder nie. Mach schon. Hab keine Angst.
     
    Sie hielt die Hand ein paar Zentimeter über den Tisch und wartete, bis sie aufhörte zu zittern. Gut so, siehst du. Sie griff nach ihrem Rucksack und wühlte darin, hier war er.
    Sie holte den Griffelkasten heraus und stellte ihn auf den Tisch. Machte ihn auf, nahm einen kleinen rechteckigen Stein heraus und fuhr sich damit über die Wange. Er war sanft und lauwarm. Anschließend rollte sie einen blauen Stoff auseinander und

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