Zwanghafte Gier
Klinikzentrums. Abgesehen von ihren Kleidern, Büchern und ein paar persönlichen Dingen hatte sie aus der alten Wohnung nur noch die Speisekarten für das erste Mittag- und Abendessen mitgenommen, das Matt im Café Jardin gekocht hatte, ihr dickes Fotoalbum, seinen Fanschal von Crystal Palace und den königsblauen Aga.
Der Herd passte perfekt in die neue Küche im Melton Cottage. Er sah wunderschön aus, machte den Ort gemütlich und erfüllte schlussendlich auch seine Funktion. Am Ende eines langen, anstrengenden und manchmal aufreibenden Tages war der Aga eine Quelle des Trostes für seine Besitzerin.
Alex’ Patienten waren ein sehr gemischter Haufen. Größtenteils hatten sie Schlaganfälle oder schwere Kopfverletzungen erlitten; andere wiederum litten an degenerativen Krankheiten. In den Jahren seit ihrer Entscheidung, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, hatte Alex mehr gelernt, als sie es je für möglich gehalten hätte, und ihre Prioritäten hatten sich dramatisch verändert. Das lag nicht so sehr daran, dass sie weniger mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre; doch angesichts von so viel Leid, so viel Mut und so viel harter Arbeit war es ihr nicht länger möglich, allzu viel über sich selbst nachzudenken. Tatsächlich hatte sie nicht einmal immer Zeit, sich um ihre alltäglichen Bedürfnisse zu kümmern.
»Du hast dich verändert«, bemerkte ihre Mutter bei einem ihrer seltenen und stets flüchtigen Besuche in England. Sie saßen bei einer Tasse Tee in der luxuriösen, wunderbar entspannenden Victoria Lounge des Grand Hotel in Brighton. »Du bist sehr dünn geworden.«
»Es geht mir gut, Mama«, erwiderte Alex und schaufelte sich saure Sahne und Erdbeermarmelade auf ihren zweiten Teekuchen, als wollte sie ihre Worte auf diese Weise betonen.
Sandra schaute sie sich genauer an.
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, es geht dir wirklich nicht schlecht.« Sie hielt kurz inne. »Matt wäre stolz auf dich.«
Es war nun fünf Jahre her, seit sie ihn verloren hatte. Matt und ihre wunderbare Beziehung zu ihm waren noch ein Stück weiter in die Schatten der Erinnerung gerückt. Die alte Liebe war zwar noch immer eine wärmende Kraft in Alex, aber nicht mehr das schmerzhafte Kraftfeld, das sie einst umhüllt hatte.
Alex ging sogar wieder mit Männern aus, wenn es ihre Zeit erlaubte.
»Gibt es da jemanden?«, fragte Suzy regelmäßig am Telefon.
Sie meinte jemand Besonderen .
»Nein«, antwortete Alex jedes Mal.
Ihre Gespräche verliefen oft nach demselben Muster. Suzy, die mit ihrem David glücklich war, wünschte sich nichts sehnlicher, als dass auch Alex wieder ihr Glück finden würde. Alex sagte ihr jedes Mal wahrheitsgetreu, dass sie zufrieden und viel zu beschäftigt sei, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen.
»Vergiss das mit dem ›zufrieden‹«, hatte Suzy vor ein paar Wochen gesagt. »Wann hast du zum letzten Mal so richtig gut gevögelt?«
Das war so lange her, dass Alex sich kaum daran erinnern konnte; aber sie sprach es nicht aus.
Tatsächlich versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, weil solche Gedanken unweigerlich die Sehnsucht nach Matt zurückbrachten, nicht nur nach dem körperlichen, sondern nach jedem Teil ihrer Beziehung: dem Zusammensein, der Leidenschaft, dem ständigen Bewusstsein des anderen, der Wärme, dem Trost und dem Vertrauen, die sie einander gegeben hatten.
Aber mit einigen Männern war sie schon ausgegangen.
Mit einem Arzt, einem Sanitäter, einem Pfleger und einem Sozialarbeiter.
»Gibt es in Sussex irgendeine Verordnung«, fragte Suzy einmal, »die Sprachtherapeutinnen vorschreibt, ausschließlich mit medizinischem Personal oder Angehörigen verwandter Berufe Beziehungen zu führen?«
Alex lachte und erwiderte, das läge an den Umständen.
»In meinem Beruf«, fügte sie hinzu, »ist es eher unwahrscheinlich, dass ich mir einen Anwalt angele.«
»Anwälte sind es auch nicht wert«, sagte Suzy. »Es gibt nur wenige wie David. Du brauchst etwas ganz anderes, Ally.«
»Und was?«
»Jemand Wunderbaren«, antwortete Suzy.
Wie Matt , dachte Alex, sprach es aber wieder nicht aus.
Eigentlich nicht wie Matt, sondern nur Matt.
Noch immer.
7
In den frühen Stunden des Aprilmorgens nach dem Unfall in Luddesdown Terrace träumte Jude Brown wieder von Scott.
Es war der gleiche alte Traum.
Das schreckliche Schlagen und das unbeschreibliche Geräusch, das der Wagen gemacht hatte, als er über ihn hinweggerollt war.
Das Gesicht ihrer Mutter, als sie
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