Zweilicht
zu den Sternen wies. Das ganze oberste Stück dieses Turmes erstrahlte vor dem Nachthimmel in einem gleißenden weißen Schein.
Eine Weile saßen sie nur blinzelnd da und bestaunten dieses auffälligste Zeichen der Menschen an diesem Ort.
»Warum gefällt das Licht ihnen nur so gut? Es schwächt den Mond und die Sterne. Die Nacht ist nicht mehr so dicht.«
»Night sagt, sie mögen die Dunkelheit nicht«, erwiderte Mo. »Sie sagt, manche können nicht einmal ertragen, wenn welche von ihnen dunkel sind. Schon dunkle Haut erinnert sie an die Nacht, vor der sie sich fürchten.«
Cinna verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. »Sie fürchten sich vor allem, sagt man. Feiglinge.«
»Was, wenn sie gar nicht feige sind?«
»Wie meinst du das?«
Mo schluckte und leckte sich über die Lippen. Eine Geste der Verlegenheit und des Zauderns, die sie immer wieder selbst überraschte. Ich muss ihn wiedersehen . Diese Worte waren wie ein Zauber. Selbst der Turm schien noch heller zu strahlen. So, als würde die Menschenwelt ihr Einlass gewähren, sie locken und zu sich ziehen.
»Na ja, ich überlege nur … was, wenn ich ihn wirklich aufwecken und mit ihm sprechen könnte? Ihn kennenlernen und …«
»Mo!«
Wenn sie lange genug hinsah, konnte sie erahnen, dass der Turm Fenster hatte und hinter den Fenstern Menschen waren. Und der Wind schien wispernde Stimmen mit sich zu tragen, die den Namen des Turmes flüsterten: Empire State …
»Sieh nicht hin!«, befahl ihr Cinna. »Sieh mich an! Du redest wie eine Mondsüchtige.«
»Aber vielleicht haben wir beide ja die Macht dazu. Und Night und Ban ahnen nichts davon. Oder vielleicht wissen sie es ja und wollen es nur nicht wahrhaben, dass unsere Magie stärker ist als ihre und …«
Cinna schnappte nach Luft und sprang auf. Im nächsten Moment zuckte Schmerz durch Mos Wange. Empört schrie sie auf und kam auf die Beine. Der Abdruck von Cinnas Hand brannte auf ihrer Wange. Ihre Schwester packte sie bei den Schultern und zwang sie, sich von der Flussseite abzuwenden. »Hör auf damit«, schrie sie.
»Du gibst mir keine Befehle!« Mo entwand sich mit einer heftigen Bewegung, aber ihre Schwester war größer als sie und sie wusste besser zu kämpfen. Ehe Mo es sich versah, war sie zum zweiten Mal in dieser Nacht in zwei starken Armen gefangen.
»Du versprichst mir, dass du keine Dummheiten machst«, zischte Cinna. »Versprich mir, dass du nicht mehr zu dem Haus gehst. Ich spüre doch, dass du daran denkst!«
Doch dann schrie sie auf und ließ los. Auf ihrem blassen Unterarm zeichneten sich Zahnabdrücke ab, ein kleiner Kranz von Vertiefungen, die bald wieder verschwunden sein würden.
Mo sprang zurück. Die scharfe Dachkante bohrte sich in ihre Sohlen.
Cinna starrte sie fassungslos an. Dann drehte sie sich um und ließ Mo einfach stehen.
»Cinna, warte!«
Das morsche Dach knirschte unter ihren Sohlen, als Mo ihrer Schwester folgte. Auf allen vieren landete sie ebenfalls im trockenen Herbstlaub. Schwer atmend verharrte sie mit gespannten Gliedern. Für einige Momente hatte sie den Jungen vergessen, aber nun war da wieder dieses Ziehen, diese Sehnsucht. Alles in ihr drängte sie dazu, zu ihm zu laufen. Doch der andere Teil wusste nur zu genau, dass sie ihrer Schwester folgen würde. Folgen musste.
Also schloss sie nur kurz die Augen und rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis. Den Mund, das Lächeln und die Augen, die das andere Mädchen sahen, wenn er träumte.
»Ich komme morgen wieder zu dir«, flüsterte sie. »Ich habe dich umarmt. Du gehörst mir.«
indianeraugen
j ay hatte gedacht, er hätte den Jetlag längst überstanden, aber der schrille Piepton einer SMS belehrte ihn eines Besseren. Mühsam kämpfte er sich aus seinem wirren, flüchtigen Traum hoch. Tja, das war ganz neu: Er dämmerte jetzt also auch mitten am Tag weg, als hätte er den Zeit- und Weltensprung immer noch nicht verkraftet. Ich bin wach, alles okay . Aber das Wachsein fühlte sich nicht viel anders an als sein Minutenkoma: als wären seine Gedanken pulsierende Zerrbilder, die sich aufblähten und wieder zusammenzogen. So musste es sich anfühlen, wenn man niedergeschlagen worden war und irgendwo aufwachte, ohne die geringste Ahnung, wie man dorthin gekommen war. Womit er auch schon bei der nächsten Frage war: Wo bin ich?
Es roch nach Papier, das sprach gegen sein Zimmer. Sein Nacken war verspannt, seine Wange lag auf etwas Hartem. Als er benommen den Kopf hob, löste sich ein Blatt,
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