Zwergenbann: Roman
Panzer aus Panik, der seinen Geist umfangen hielt, drang ein Funke von Neugier. Nicht einmal dies jedoch vermochte ihm Trost zu spenden oder wenigstens seine Gedanken von dem abzulenken, was ihn erwartete - dafür war das, was er zu sehen bekam, zu trostlos.
Vor der Höhle erstreckte sich in beide Richtungen ein langer, vollkommen kahler Stollen, der von in Wandhaltern steckenden
Fackeln schwach erleuchtet wurde. Mehrere ebenso massive und durch dicke Riegel gesicherte Türen zweigten davon ab. Lian fragte sich, ob dahinter ebenfalls Wohnhöhlen lagen, in denen Zwerge eingepfercht waren. Er befürchtete, dass es so war, auch wenn er keine Möglichkeit hatte, es zu überprüfen.
Wie um alles in der Welt hatte es dazu kommen können? Bestand der gesamte Daseinszweck seines Volkes wirklich darin, Sklaven der Thir-Ailith zu sein? War es immer schon so gewesen, war sein Volk in Sklaverei geboren, oder hatten die Thir-Ailith es irgendwann in grauer Vorzeit erst dazu gemacht? Und wenn ja, was war davor gewesen?
Fragen wie diese beschäftigten Lian schon, seit er denken konnte, obwohl er wusste, dass er niemals Antworten darauf erhalten würde. Die Thir-Ailith bewachten sie, gaben ihnen zu essen und wählten aus, wer von ihnen sterben musste, aber es war unmöglich, mit ihnen irgendeine darüber hinausreichende Form von Kontakt herzustellen. Jeder Versuch, sie auch nur anzusprechen, wurde mit dem Tod bestraft.
Lian hatte es nur ein einziges Mal erlebt, dass ein Zwerg es gewagt hatte, sich direkt an einen der bleichen Herrscher zu wenden. Der Zwerg, dessen Namen er längst vergessen hatte, wenn er ihn überhaupt jemals gekannt hatte, war krank gewesen und hatte wegen seiner schrecklichen Schmerzen den Thir-Ailith angefleht, ihm zu helfen. Dieser hatte ihn einen Moment lang ausdruckslos angesehen, dann einen Dolch gezogen und ihm die Kehle durchgeschnitten. Aber das war noch nicht alles gewesen. Etwas war geschehen, was Lian bis zum heutigen Tag entsetzte. Während der Zwerg verblutete, hatte sich sein Körper zu verändern begonnen, war in rasender Geschwindigkeit gealtert und in sich zusammengesackt. Nach seinem Tod war nicht mehr als eine ausgedörrte, irgendwie leer wirkende Hülle von ihm zurückgeblieben; lederartige Haut, die sich über den Knochen spannte. Lian hatte diesen Anblick niemals vergessen, und schon die bloße Erinnerung ließ ihn schaudern.
War es das, was nun auch ihn und die anderen erwartete? Aber warum tötete man sie nicht direkt an Ort und Stelle, wenn dies das ihnen zugedachte Schicksal war? Oder verhielt es sich tatsächlich so, wie einige der anderen, mit denen er gesprochen hatte, in einer durch nichts Konkretes gestützten Hoffnung mutmaßten, dass diejenigen, die von den Thir-Ailith ausgewählt wurden, nicht der Tod erwartete, sondern sie lediglich an einen anderen Ort gebracht wurden, um dort Sklavendienste für sie zu verrichten?
Lian glaubte nicht daran, dennoch spürte er, wie sich etwas tief in ihm an diese Hoffnung zu klammern begann, so gering sie auch sein mochte, während er weiterhin monoton einen Fuß vor den anderen setzte. Er wollte nicht sterben!
Innerhalb der Wohnhöhle hatte es keinerlei Möglichkeit gegeben, das Verstreichen der Zeit zu messen, weshalb Begriffe wie Monate oder Jahre für ihn keinerlei Bedeutung besaßen. Auch wusste er nicht, wie alt ein Zwerg werden konnte, wenn ihn die Thir-Ailith nicht vorher töteten, aber sicherlich älter, als er jetzt war. Er war gerade erst körperlich ausgewachsen und fühlte sich noch jung und auf der Höhe seiner Stärke und Leistungskraft. Was war das für ein grausames Schicksal, das ihn schon jetzt zum Tode verurteilte, ohne dass er jemals mehr als die Wohnhöhle zu sehen bekommen hatte oder etwas anderes hatte tun können als zu schlafen, essen, trinken, warten und - zumindest in letzter Zeit - sich mit einigen der Zwerginnen zu vereinen?
Zum wiederholten Male kämpfte er gegen den fremden Zwang an, der ihn zum Weitergehen trieb, doch abermals erfolglos. Die Magie der Thir-Ailith, die die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatten, war einfach zu stark. Unaufhaltsam näherten sie sich dem Ende des Ganges.
Eine Halle, gigantischer als Lian sie sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können, schloss sich daran an. Sie war um ein Vielfaches größer als die Wohnhöhle, die bislang seine gesamte Welt dargestellt hatte - und unvergleichlich prachtvoller.
Für einige Sekunden ließ der Anblick ihn sogar
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