Zwischen den Gezeiten

Alle im Lager sagten Inga, und doch hätte sie gerne gewußt, bei wem der Lieutenant sich erkundigt hatte.
    Â»Sie stammen aus der Gegend?«
    Sie nickte.
    Â»Wie ist es hier?«
    Â»Wenn Sie den Himmel mögen, ist es schön.«
    Â»Den Himmel?«
    Â»Wo Sie hingehen, ist Horizont.«
    Â»Sie meinen, so flach ?« Die dunkle Stimme klang, als ob sie sich kräuselte.
    Â»Nein, hoch. Für mich ist unser Land hoch. Von wo kommen Sie?«
    Die Frage überraschte ihn. »Ziehen Sie auf der Karte einen Strich von Ihrer Stadt nach Nordwesten«, sagte er. »Dann treffen Sie meine Stadt.«
    Â»England?«
    Â»Schottland.« Er nahm das Wort wie eine Kostbarkeit. »Grüne Berge und Klippen, die bis ans Wasser bewachsen sind.«

    Er bemerkte, daß sie sich Richtung Schlagbaum wandte. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
    Mit einem Mal kam sie sich schutzlos vor – der dünne Mantel aus schwarzweißem Zwirn, Kniestrümpfe, die Strickjacke der Mutter. Der fahle Mann mit der alten Stimme, sein verbundenes Knie auf der Brüstung, wie war er ins Freie gelangt, wie krank war er wirklich?
    Â»Soll ich die Schwester rufen?« Inga hatte sich an die Terrasse gelehnt, nun trat sie zurück.
    Â»Es dauert nicht lange.« Unterm Stoff des Bademantels kamen schmale Arme hervor, kraftlose Arme, die Bewegung hatte ihm Schmerz verursacht. Inga nahm die drei Stufen hoch und sagte, er müsse ins Bett.
    Â»Ich brauche etwas aus meiner Unterkunft.«
    Â»Wem soll ich Bescheid sagen?«
    Er legte die Hände auf den Bauch, wie zum Zeichen, von ihm sei keine Gefahr zu erwarten. »Könnten Sie es für mich holen?« Seine Augen wirkten nicht krank, nur weit weg. Eine Haarsträhne fiel über die Braue.
    Â»Es ist das vierte Zimmer im rechten Block, in meinem Spind, ein schwarzes Futteral.« Im Lazarett wurde gehustet, sein Kopf ging zur Seite. »Tun Sie mir den Gefallen?«
    Sie wollte nein sagen, er war nicht im Dienst, hatte ihr nichts zu befehlen. Sie dachte, wie dumm, zu ihm gekommen zu sein, längst hätte sie die Schranke passiert, wäre auf einen Laster gesprungen oder bei jemand auf der Fahrradstange mitgefahren.
    Â»Wenn man mich in den Offiziersunterkünften erwischt, verliere ich meine Stellung.«
    Â»Unsinn.« Kaum spürbar legte sich seine Hand auf ihren Ärmel. »Um diese Zeit sind alle im Casino. Können Sie Lebensmittelmarken gebrauchen? Ich gebe Ihnen drei Tagesrationen – für einen kleinen Gefallen.«
    Â»Ich will keine Marken von Ihnen.« Sie schüttelte die Hand ab, schämte sich dafür, stehenzubleiben.

    Â»Nach rechts drehen.« Sie spürte, wie er ihr den Schlüssel gab, seine Fingerspitzen waren warm. Sie lief die Treppe hinunter, krampfte die Hand um das Schlüsselchen, hob die Füße im Gras übertrieben hoch, dachte, das Vernünftigste wäre, sich zum Tor zu wenden, dem Wachsoldaten eine gute Nacht zu wünschen und hinauszuschlüpfen. Das abenteuerliche Gefühl, das Inga stets befiel, wenn Unbekanntes lockte, ließ sie die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Sie umging das Casino über den Pfad an der Tankstelle, die Quartiere der Offiziere tauchten auf. Eine Glühbirne für beide Häuser, das Kabel um die Äste gewunden; obwohl es windstill war, bewegte sich das Licht auf und ab. Inga drängte in den Schatten der Eiche, kein Fenster erleuchtet, schwach klang Klaviermusik durchs Lager; unwirklich, im Wald Klavier zu hören. Sie huschte über den Vorplatz zur Treppe der rechten Baracke, die Stufen, vollgesogen von der Feuchtigkeit eines Winters, klangen hohl. Sie drehte den Knauf, schaute in die Finsternis, Vier, dachte sie und wußte nicht mehr, war es rechts oder links. Kühle Korridorwand, seit drei Tagen blieben die Öfen kalt, sie probierte es bei der vierten Tür, öffnete sie einen Spaltbreit, erkannte nur Umrisse. Stromausfall, ging ihr durch den Kopf, mehrmals die Woche gab der Generator den Geist auf, in Ingas Büro hatten sie Streichhölzer auf das Waschbord gelegt. Ihre Hand tastete nach rechts, Steingutablage, Armatur, sie fand die Schachtel, schüttelte sie; nur zwei Hölzchen, sie entzündete das vorletzte. Eine Liege statt der Stockbetten bei den Soldaten, Tisch und Stuhl, einzig die Lampe war auffallend, ein verzierter Bronzefuß, mehrfarbig gläserner Schirm. Zwischen Fenster und Bett stand der