Zwischen Sehnsucht und Verlangen
ihm nicht mehr als der Staub auf der Straße.
Es tat einfach gut. Auch wenn Joe jetzt besser in Deckung ging als zu Anfang und hin und wieder sogar einen Volltreffer landete, tat es gut.
Fäuste und Blut waren eine klare Sache. Das Krachen, das ertönte, wenn Knochen auf Knochen traf, war ein befreiendes Geräusch; wenn er es hörte, konnte er alles andere vergessen.
Als Devin das blutige Rinnsal sah, das sich vom Mund seines Bruders über sein Kinn hinabzog, zuckte er kurz zusammen, rammte dann aber entschlossen die Hände in die Hosentaschen. „Fünf Minuten gebe ich ihnen noch”, erklärte er seinen Brüdern.
„Quatsch, in drei Minuten ist Joe fertig.” Mit einem Grinsen beobachtete Shane die beiden Gegner, deren Boxkampf mittlerweile in ein erbittertes Ringen übergegangen war.
„Zehn Dollar.”
„Rafe! Los, auf! Mach ihn fertig!”, feuerte Shane seinen Bruder an.
Genau drei Minuten und dreißig hässliche Sekunden dauerte es, bis Joe in den Knien einknickte. Breitbeinig stellte sich Rafe vor ihn hin und verpasste ihm methodisch einen Kinnhaken nach dem anderen. Als Joe begann, die Augen zu verdrehen, sodass man nur noch das Weiße sah, machte Jared rasch einen Schritt vor und zog seinen Bruder weg.
„Er hat genug.” Jared packte Rafe, um ihn zur Besinnung zu bringen, bei den Schultern und schüttelte ihn. „Er hat genug, kapiert?”, wiederholte er.
„Lass ihn jetzt in Ruhe.”
Nur langsam wich der rasende Zorn aus Rafes Augen. Er öffnete seine Fäuste und starrte auf seine Hände. „Lass mich los, Jared. Ich mach nichts mehr.”
Rafe blickte auf den vor sich hinwimmernden Joe, der halb bewusstlos auf dem Boden lag. Über ihn gebeugt stand Devin und zählte ihn aus.
„Ich hätte in Betracht ziehen müssen, wie besoffen er ist”, gab er gegenüber Shane zu. „Aber glaub mir, wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte Rafe fünf Minuten gebraucht.”
„Ach, niemals! Du glaubst doch nicht, dass Rafe fünf Minuten an so einen Schwachkopf verschwendet.”
Jared legte seinen Arm kameradschaftlich um Rafes Schultern. „Wie wär’s mit einem abschließenden Bier?”
„Nein.” Rafes Blick wanderte zu den Fenstern der Kneipe hinüber, wo sich sensationslüstern eine Menschentraube zusammendrängte.
Geistesabwesend wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. „Vielleicht sollte jemand von euch ihn auflesen und nach Hause schaffen”, schrie er Duffs Gästen zu und wandte sich dann an seine Brüder. „Los, lasst uns abhauen.”
Als er schließlich im Auto saß, machten sich seine Platzwunden und Prellungen unangenehm bemerkbar. Nur mit halbem Ohr hörte er Shanes mit Begeisterung vorgetragener Wiederholung des Kampfes zu, während er sich mit Devins Halstuch das Blut, das immer wieder von Neuem von seiner Unterlippe tropfte, abwischte.
Du hast kein Ziel, dachte er. Willst nichts. Tust nichts. Bist nichts. Seiner Meinung nach bestand der einzige Unterschied zwischen ihm und Joe Dolin darin, dass Joe ein Trinker war und er nicht.
Er hasste die verdammte Farm ebenso wie diese verdammte Stadt hier.
Er kam sich vor wie in einer Falle, in einem Morast, in dem er mit jedem Tag, der zu Ende ging, tiefer versank.
Jared hatte seine Bücher und seine Studien, Devin seine absonderlich schwerwiegenden Gedanken und Fantasien und Shane das Land, das ihm offensichtlich alles geben konnte, was er zu seiner Befriedigung brauchte.
Nur er hatte nichts.
Am Ortsausgang, wo die Straße anzusteigen begann und der Baumbestand dichter wurde, stand ein Haus. Das alte Barlow-Haus. Düster und verlassen lag es da. Es gab Leute im Ort, die steif und fest behaupteten, in dem alten Gemäuer würde es spuken, weshalb die meisten Einwohner von Antietam sich bemühten, das Haus möglichst nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder aber ein wachsames Auge darauf hatten.
„Halt mal kurz an.”
„Himmel, Rafe, wird dir womöglich zu guter Letzt noch schlecht?”
„Nein. Halt an, Jared, verdammt noch mal.”
Sobald der Wagen stand, sprang Rafe hinaus und kraxelte den steinigen Abhang zu dem Haus hinauf. Überall wucherten Büsche und Sträucher, und dornige Zweige verfingen sich in seinen Hosenbeinen. Er brauchte nicht erst hinter sich zu sehen, um die Flüche zu hören, die seinen Brüdern, die hinter ihm herstolperten, über die Lippen kamen.
Er blieb stehen und blickte versonnen auf das zweistöckige düstere Gemäuer, dessen Quader wahrscheinlich, wie er vermutete, aus dem Steinbruch, der nur ein paar Meilen entfernt
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