Zwischen zwei Nächten
ebenfalls damit begnügen. Sie hatten getrennte Schlafzimmer und ein gemeinsames Wohnzimmer, der vierte Raum war als Arbeitszimmer vorgesehen gewesen. In letzter Zeit benützten sie dieses Zimmer allerdings kaum mehr, es diente als Abstellkammer.
„Du hast die Wohnung in diesem Zustand noch gar nicht gesehen, oder? Ich habe den Umbau selbst in die Hand genommen und bin richtig stolz auf diese Lösung.“
„Sieht wirklich hübsch aus“, bemerkte Ann-Marie gleichgültig.
Obwohl die verkehrsreiche Mariahilferstraße ums Eck lag, war es eine sehr ruhige Wohnung. Ein Häuserblock schirmte sie von der Straße ab, und die Fenster gingen alle auf Hinterhöfe hinaus.
Ann-Marie genoß die ungewöhnliche Stille, die nur durch das dumpfe Trommeln des Regens unterbrochen wurde. Gewöhnt an das ständige Dröhnen einer sechsspurigen Stadtautobahn, die den East River entlangführte, empfand sie dieses monotone Geräusch als geradezu wohltuend. Die monumentalen Wohnsilos, die zwischen ihrer Straße und der Autobahn errichtet worden waren, hielten den Lärm kaum ab, verhinderten nur die Sicht auf das Wasser, an dessen Ufer sie gern spazierengegangen wäre, wenn es nicht zu gefährlich und wenn der verdammte Lärm nicht gewesen wäre.
Sie hätte sich gern auf die Terrasse gesetzt. Die Luft war mild, und es würde bestimmt bald zu regnen aufhören. Vereinzelt kamen schon Sonnenstrahlen durch. Doch Anna suchte die Terrasse immer erst nach Büroschluß auf. Angeblich war es ihr unangenehm, sich dem Müßiggang hinzugeben, während andere für sie arbeiteten. Außerdem haßte sie es, von ihnen beobachtet zu werden.
„Die permanente soziale Kontrolle“, behauptete sie.
Im großen Atelier am anderen Ende der Terrasse saßen die drei Angestellten: eine Architektin, eine technische Zeichnerin und eine Sekretärin. Wenn viel zu tun war, wurden auch freie Mitarbeiter beschäftigt. Ein ehemaliger Architekturstudent, der auf die Vierzig zuging und längst nicht mehr daran dachte, sein Studium zu beenden, gehörte praktisch auch zur ständigen Belegschaft, da er täglich für ein paar Stunden ins Büro kam. Er galt als Annas spezieller Liebling. Böse Zungen behaupteten, ihre Sympathie für ihn ließe sich allein darauf zurückführen, daß er ebenso gern tief ins Glas schaute wie sie.
Wenn alle anwesend waren, stellte Anna auch ihr eigenes Atelier, einen kleinen, hellen Raum, der viel Oberlicht bekam, zur Verfügung. Sie arbeitete nur mehr selten in ihrem Atelier. Doch früher hatte sie dort mehr Zeit verbracht als in ihrer Wohnung.
Die wenigen beruflichen Gespräche, die sie heute noch führte, erledigte sie von ihrem privaten Telefonanschluß aus.
Alfred ließ niemanden in sein Büro.
„Er hat es zu einem Liebesnest umfunktioniert, denn wozu braucht er sonst wohl eine Couch und gedämpftes Licht? Wohlerzogen, wie ich nun einmal bin, betrete ich sein Büro nie, ohne vorher anzuklopfen. Trotzdem habe ich ihn nicht nur einmal mit unserer Sekretärin überrascht. Doch seit er dieser Margot nachläuft, bedient er sich nur mehr höchst selten der Dienste der Kleinen. Ich habe ihr Gehalt erhöht. Sie hat mir einfach leid getan. Aber laß uns von etwas anderem reden. Eigentlich ekelt mich das alles an.“
Haß und Ekel überkommen sie, als sie zusieht, wie die Totengräber ihre Pflicht tun und feuchte, dunkle Erde auf den Sarg schaufeln.
Die vielen Kränze und Bouquets tragen erst recht zu ihrer Übelkeit bei. Anna mochte keine Blumen.
Sie steht vor dem Grab, starrt auf die vertrockneten Rosen und auf die bröckelige Erde, die jetzt den Sarg bedecken, und möchte sich auf der Stelle übergeben, wagt aber nicht, ins Grab zu speien. Die Totengräber schenken ihr verdrossene Blicke. Sie stört die beiden Männer bei der Arbeit. Mit einem heftigen Ruck wendet sie sich ab, wankt zum Tor und steigt in den erstbesten Wagen.
Fremde Leute, angeblich gute Bekannte von Anna, nehmen sie mit in die Stadt. Auch während der Fahrt hält dieses Würgen im Hals noch an. Sie fürchtet um die Rücksitze des schicken Autos.
Der Wagen rast die triste Simmeringer Hauptstraße entlang. Die angeblichen Freunde von Anna fühlen sich bemüßigt, Ann-Marie zu unterhalten. Sie erfährt einige interessante Details über den plötzlichen Tod ihrer Freundin.
An einen Unfall scheint niemand zu glauben, weder Alfred noch die Polizei noch die Freunde. Sie litt unter schweren Depressionen, schluckte jede Menge Antidepressiva, die ihr der Hausarzt, ein alter Freund
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