Zwoelf Schritte
warm, dass ich mich erst wieder besinne, als ich mit der Hand durch ihr dunkles Haar fahre, das sie jetzt schulterlang trägt. Sie rutscht für einen Moment auf dem Sitz hin und her, bevor sie losfährt. Offensichtlich ist ihr diese Berührung unangenehm, also ziehe ich meine Hand zurück und sage:
«Vielen Dank, dass du mich abholst.»
«Keine Ursache», antwortet sie und lächelt. «Wie fühlst du dich?»
«Ganz gut! Etwas gestresst und unsicher, aber auch zuversichtlicher als vorher.»
«Gut so», meint sie und lächelt erneut, ohne den Blick von der Straße abzuwenden, und ich spüre, dass sie etwas sagen will. Zwischen uns gibt es mit Sicherheit noch viel Unausgesprochenes, aber ich hoffe, dass sie mir einige Tage Zeit lässt, um mich zu sammeln, bevor ich mich den Sünden der Vergangenheit stellen muss. Sie fährt mich direkt nach Hause, und dort angekommen, frage ich, ob sie auf eine Tasse Tee mit reinkommen will. Ich hoffe insgeheim, dass sie ablehnt, da ich die Wohnung nicht gerade in aufgeräumtem Zustand zurückgelassen habe – die meisten Kisten stehen ein halbes Jahr nach dem Umzug noch immer herum, und überall liegen Bierdosen, wenn ich mich richtig erinnere. Trotzdem will ich nicht, dass sie gleich wieder geht.
«Ich wollte dich um einen Gefallen bitten», sagt sie.
«Selbstverständlich», antworte ich, «ich schulde dir eine Menge.»
«Ich ermittle in einem Mordfall und wollte dich bitten, mir ein wenig zu helfen.»
Einen derartigen Gefallen habe ich nun wirklich nicht erwartet, und ich kann mein Erstaunen kaum verbergen.
«Wie in aller Welt soll ich dir denn bei einer laufenden Mordermittlung helfen?»
«Mit deinen Fachkenntnissen. Ich brauche etwas mehr Zeit, um dir das alles genauer zu erläutern, und heute ist dein erster Tag nach dem Entzug. Ich hab gedacht, wir könnten uns vielleicht morgen treffen, und dann erkläre ich dir die Sache?»
«Ja, klar, kein Problem», antworte ich total verwundert und biete ihr an, morgen zu mir zum Tee zu kommen. Bis dahin werde ich die Wohnung aufräumen.
Ein fauliger Gestank schlägt mir entgegen, als ich die Wohnungstür öffne. Mich überkommt ein Würgegefühl. Ich stelle die Tasche ab, öffne alle Fenster und mache mich sogleich daran, mich auf die einfachste Art und Weise von den Gespenstern der Vergangenheit zu befreien: Ich packe sämtliche Bierdosen und Weinflaschen in schwarze Plastiktüten und bringe den Müll raus, der sich in den letzten zehn Tagen in etwas im wahrsten Sinne des Wortes Organisches verwandelt hat, da ich damals nicht in der Lage gewesen bin, ihn rauszubringen. Die Dosen schmeiße ich weg, anstatt sie zum Recycling zu bringen. Es kommt für mich nicht in Frage, Pfand dafür zu kassieren – als ob Recycling ein Symbol für meine Sparsamkeit und mein Umweltbewusstsein wäre. Ich will, dass dieser saure und aufdringliche Gestank der fauligen Bierreste mich daran erinnert, dass ich ihn bei mir zu Hause nicht mehr dulde. Als ich die Tüten die Treppe runtertrage, holen mich die Selbstzweifel wie alte Bekannte ein: Es ist fast schon angenehm, vertraute Sätze über das eigene Elend und die eigene Ohnmacht in sich hineinfließen zu lassen wie heißen Brei, von dem einem fast schlecht wird, den man aber doch immer wieder isst. Ich muss es schaffen, diese Gedanken von mir fernzuhalten und sie durch eine positivere Einstellung zu ersetzen. In Gedanken erstelle ich eine Einkaufsliste der Dinge, die ich anschließend im Supermarkt besorgen will, und überlege mir, was ich tun könnte, damit die Wohnung morgen etwas gemütlicher aussieht.
Im Supermarkt schraube ich den Verschluss von allen Putzmitteln ab, rieche daran und wähle das Produkt mit dem intensivsten Duft. Außerdem kaufe ich Duftkerzen und ein weinrotes Papiertischtuch für den Sofatisch, damit das Wohnzimmer nicht so kahl wirkt. Anschließend suche ich mir mein Abendessen zusammen, Hähnchen vom Grill und dazu Salat. Ich lege Cola, Orangensaft, Mineralwasser, Sprite und Ananaskonzentrat in den Einkaufskorb, damit bin ich bestens mit Getränken versorgt und werde das Bier nicht vermissen. Außerdem kaufe ich zwei Sorten Eis, Eiswaffeln und Schokosauce. «Lieber dick als vollgesoffen», hat jemand beim Entzug gesagt, was ich mir als Motto für die kommenden Tage eingeprägt habe, zumindest so lange, wie ich mir keine Sorgen um meine Linie machen muss. Während ich in der Kassenschlange stehe, schweift mein Blick über die Titelseiten der Zeitungen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher