Zwoelf Schritte
plötzlich irgendwie bizarr und idiotisch. Ich hätte genauso gut bei Atli klingeln und ihn fragen können, was er über meinen Bruder weiß.
Ich wähle Geirs Nummer. Er sagt, er bereite gerade die heutigen Meetings unten in der Hverfisgata vor und ich sei willkommen, ihm dabei zu helfen. Wir könnten danach reden. Ich beeile mich und spüre Erleichterung darüber, mich in das sichere Umfeld der Meetings zu begeben, wo ich einen Augenblick meine Sorgen und Trauer ablegen kann. Ich freue mich, Geir wiederzutreffen und mit ihm zu besprechen, wie und wann ich am besten wieder mit den Schritten beginne. Ich will am liebsten von vorne anfangen und mir die Schritte von Grund auf erarbeiten. Geir ist gerade dabei, im frischgeputzten großen Saal die Stühle zu stapeln. Ich nehme einen Schwung Stühle, trage sie hinaus und beginne die hinterste Reihe aufzustellen.
«Man muss vielleicht die Sitze ein bisschen abwischen», sagt Geir und reicht mir ein feuchtes Tuch, das nach Seife duftet, und ich wische leicht über die Sitzkissen, froh über die einfache, leichtverständliche und nützliche Aufgabe. Ich beuge mich über jeden Sitz und mache ihn sauber. Das Pfeifen in der Luft hinter mir höre ich erst, als der schwere Schlag auf meinen Nacken trifft.
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Elftes Kapitel Gebet
Bevor ich vollständig das Bewusstsein wiedererlange, spüre ich ein starkes Pochen im Kopf, als ob der Schlag immer noch im Schädel widerhallen würde. Ich öffne die Augen und sehe, dass ich in einer aufrechten Position bin und nicht liege, wie ich dachte. Anscheinend befinde ich mich in einer Art Schuppen mit hoher Decke, gegenüber durch die schmalen Ritzen einer großen Tür dringt ein wenig Tageslicht. Es liegt ein schwacher Stallgeruch in der Luft, und von draußen höre ich gleichförmige Verkehrsgeräusche. Ich habe das Gefühl, als ob ich schweben würde, und überlege, ob das vom Schlag auf den Hinterkopf herrührt, aber als ich einen Schritt nach vorne machen will, merke ich, dass ich tatsächlich etwa einen halben Meter über dem Boden in der Luft hänge. Ich drehe den Kopf, so weit es geht, aber als sich das Kinn der Schulter nähert, spüre ich einen schmerzhaften Stich oben am Kopf, als ob mir die Kopfhaut abgezogen würde. Die Kopfbewegung reicht jedoch aus, dass ich meine Arme sehen kann, wo an den Gelenken Stricke befestigt sind: Unter meinen Achseln ist ein Seil, um die Ellenbogen und die Handgelenke, und um jeden einzelnen Finger ist eine dünne Schnur geknüpft. Die Seile scheinen an der Decke befestigt zu sein. Auch an meinen Schenkeln und um die Knie sind Seile, und ich stehe in seltsamen Steigbügeln, die jedoch nachgeben, sodass sich das Körpergewicht auf die anderen Seile und Schnüre verteilt, wenn ich versuche, einen Fuß zu belasten. Auch mein Haar ist hochgebunden, sodass ich mich selbst skalpieren würde, wenn ich den Kopf sinken lassen oder zu weit zur Seite drehen würde.
«Jetzt bist du präpariert wie eine Marionette», sagt eine Stimme hinter mir, «und es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich führen zu lassen.»
Ich brauche einige Augenblicke, bis ich die Stimme erkenne. Geir baut sich vor mir auf, lächelt und zieht an einem der Seile, die zwischen uns von der Decke hängen. Mein Bein bewegt sich ruckartig, er zieht an einer anderen Stelle, und mein anderes Bein ruckt hin und her. Obwohl sich die Beine bewegen, tun mir am meisten die Finger weh.
«Was habe ich zu dir gesagt?» Er geht ruhig einmal um mich herum. «Ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Ich sagte, dass ich dafür sorgen würde, dass du in Zukunft nicht mehr trinkst.» Er bleibt direkt vor mir stehen. «Aber du bist rückfällig geworden und hast die ganze Nacht wie ein Schwein gesoffen. Bedeutet das, dass ich gescheitert bin?»
Ich schweige, ich weiß nicht, was ich antworten soll.
«Oder bedeutet das, dass du deinen Teil der Abmachung nicht eingehalten hast?», fährt er fort. «Moment, wie war das noch mal … ja: Deine Aufgabe ist es, das zu befolgen, was ich dir sage! Hast du befolgt, was ich dir gesagt habe? Na?» Ich beschließe einzulenken, vielleicht erzeugt ja unterwürfige Reue Mitleid bei ihm, und sage leise:
«Nein.»
«Nein! Nein, nein! Das ist es nämlich genau!», brüllt er. «Du hast nicht befolgt, was ich dir gesagt habe! Du hast aufgehört, mit deinen Schritten zu arbeiten, und die Meetings nicht mehr besucht und einfach den Dingen ihren Lauf gelassen.» Ich sage nichts dazu, nachdem ich
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