Zwölf Wasser Zu den Anfängen
Leder ausgelegt und die Panik, beim nächsten Atemzug den bösartigen Staub in die Lungen zu lassen und daran zu ersticken, überwältigte ihn beinahe. Er schlug um sich. Wie schwach sein linker Arm doch war, wie ungelenk die Hiebe. Er sah Babu nicht mehr, er hörte ihn nicht, er konnte nicht rufen. Er war im Zentrum eines Staubsturms – und das Erschreckende war, dass dieser Sturm sich
lebendig
anfühlte.
Was Felt umgab, ihn bedrängte, ihn angriff, ihm die Luft nahm, war ein lebendes Wesen. Fremdartig. Heimtückisch. Es war überall und nirgends. Es war bewegte, beseelte Luft. Es war unüberwindbar.
Es riss Felt das Schwert aus der Hand. Es versetzte ihm einen heftigen Schlag auf den Helm. Es trat ihm vor die Brust.
Er würgte, er musste Luft holen. Und das Wesen in sich einlassen. Im Mund war der brennende Schmerz kaum auszuhalten,im Brustkorb war er dumpfer, aber noch beängstigender. Felt schoss die Szene im Fluss durch den Kopf, als er glaubte, ertrinken zu müssen. Was würde er dafür geben, im klaren Wasser zu liegen, darin unterzugehen, ja, zu ertrinken, die Lungen vollzusaugen mit kühler Feuchte. Er dachte an Revas eiskalte Hände an seinem Kinn, wie ihre Augen geleuchtet hatten, als sie sich über ihn beugte und ihm das Versprechen abrang, schwimmen zu lernen. Und damit doch nur meinte, dass er ihr vertrauen sollte … Tat er das? Er wusste es nicht, er rang um sein Leben, er erstickte am Staub, den ihm ein böser Luftgeist bis in die letzte, feinste Verästelung seiner Bronchien drückte. Felts letzter Gedanke galt dem Irrsinn seines bevorstehenden Todes: Er wurde erstickt von lebendiger Luft.
Ein Tuch verhängte sein Bewusstsein.
Sein Körper wurde schlaff.
Er wurde gefaltet, Knie an die Brust, Arme um die Beine. Er wurde gehoben.
Als es bis auf ein sanftes Hauchen wieder still geworden war, schwebten zwei Männer, eingerollt wie friedlich schlummernde Kinder, hoch über dem Boden. Aber nicht nur die Luft, die hier lebte, hatte Felts Brüllen gehört. Sondern auch Reva. Sie konnte jedoch nicht antworten, nicht zu ihm kommen, denn sie war zu weit entfernt.
Reva stand auf dem höchsten, mächtigsten Turm Wiatraïns, unter freiem Himmel. Vor ihr erhob sich ein Brunnen von majestätischer Dimension: Von einem bauchigen, zentralen Kelch lief das Wasser über geschwungene Auslässe in sieben kreisrund angeordnete Schalen. Sie schwammen wie große Seerosenblätter auf dem mondhellen Wasserspiegel des untersten Beckens, das nur durch eine dicke, steinerne Wulst vom Steinboden begrenzt wurde. Dieses Becken maß achtzig Schritte imDurchmesser, die Tiefe war nicht abzuschätzen. Reva hatte die Arme hoch erhoben, die weiten Ärmel ihres Gewands waren ihr bis in die Achseln gerutscht und die verschlungenen Narben auf ihrer Haut leuchteten hell wie nie.
»Laszkalis!«, rief sie. »Beruhige dich!«
Wind griff nach ihr. Sie machte eine schnelle Bewegung. Ein Wasserstrahl schoss aus dem großen Becken über die Wulst auf Reva zu. Er eiste ihr die Füße fest, bevor sie umgestoßen werden konnte. Sie bog sich unter einem Luftschlag, duckte sich tief, hob die Arme wieder, die Finger weit gespreizt, und auf ihre Geste hin hoben sich sprudelnd sieben Fontänen aus den Schalen. Sie neigten sich zum Zentrum des Brunnens über den großen Kelch und zerstoben zu Gischt, als sie auf einen unsichtbaren Widerstand trafen: Im feinen Wassernebel wurde ein schnell rotierender Zylinder sichtbar, der über dem Brunnen schwebte. Die auf ihn gerichteten Wasserstrahlen wickelten sich um den wirbelnden Zylinder wie Garn auf eine Spindel. Durch Revas Körper ging ein Ruck, dann schloss sie die Hände zu Fäusten. Die Wasserschnüre zogen sich zu, verengten den Zylinder zum Trichter. Revas Lider flatterten, die geballten Fäuste zitterten heftig, als wehrten sich die Finger dagegen, auseinandergerissen zu werden. Aber das wurden sie. Revas Fäuste öffneten sich; sofort bedeckte sich das Wasser im Brunnen mit einer Eisschicht, die Fontänen erstarrten, die Fessel um den wirbelnden Trichter zersprang in Myriaden Kristalle. Einen halben Atemzug lang hing ein breiter, im Mondlicht funkelnder Gürtel aus Eissplittern wie schwerelos um ein nun wieder unsichtbares, leeres Zentrum – dann fiel er klirrend zu Boden.
»Laszkalis!«, rief Reva wieder. »Ich bitte dich: Sei ruhig!«
Eine Bö schlug ihr die Kapuze übers Gesicht. Das Eis um Revas Füße und die Kristalle rund um den Brunnenschmolzen augenblicklich.
Weitere Kostenlose Bücher