Zwölf Wasser Zu den Anfängen
nicht erkennen. Reva stützte sich auf dem Rand des Brunnens ab, ließ den Kopf hängen. Die immer wache, immer in ruheloser Bewegung wandernde Unda schien so erschöpft zu sein, dass Felt erwartete, sie würde endgültig zusammenbrechen und kopfüber in das Brunnenbecken stürzen. Aber sie tunkte nur wieder ihre Hände ein und dann – zum allerersten Mal – sah er sie trinken. Sie stöhnte auf. Gequält und doch lustvoll, was Felt sofort an Estrid denken ließ. Peinlich berührt wandte er den Blick ab.
Babu lag nicht weit, Felt robbte zu ihm. Der Brustkorb des Merzers hob sich bebend und unregelmäßig, im Mondlicht erschien das Gesicht fast bläulich blass, aber auch er lebte. Felt setzte sich auf, ein heftiger Schmerz zog ihm die Brust zusammen, er hustete, würgte, spuckte zähen schwarzen Schleim. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite werfen und erbrach sich auf den glatten Steinboden neben dem ohnmächtigen Babu.
»Du wirst noch ein paar Tage lang husten, ich nehme an, du hast viel Staub eingeatmet.«
Reva sah lächelnd auf ihn herab und ihr Gesicht war wieder das, das Felt kannte – alterslos und von nicht näher bestimmbarer Schönheit. Aber etwas war doch anders: Feine Linien wuchsen ihr nun auch über die Wangen bis hinunter zum Kinn und schlängelten sich den Hals hinab. Sie ignorierte sein Starren und sagte: »Du darfst es Laszkalis nicht übel nehmen, er hat es nicht böse gemeint. Er hat wahrlich nicht oft Besuch, unsere Anwesenheit hat ihn tief verstört. Und er hat im Grunde nichts weiter getan, als die Quelle zu schützen.«
»Wer? Was?« Felt räusperte sich, schluckte.
Sie zeigte auf den Brunnen.
Ein funkelnder Ball drehte sich über der mittleren, bauchigen Wasserschale. Er explodierte, sternförmig stoben Wassertropfen auseinander. Sie wurden wieder angezogen von einer unsichtbaren Mitte und formten sich erneut zum glitzernden Tropfenball. Der wieder explodierte und so fort.
»Er ist jetzt beschäftigt. Er wird uns nicht mehr belästigen.«
»Was um alles in der Welt ist das?”
»Das ist Laszkalis, Wanderer durch den Berst, Erbauer von Wiatraïn. Laszkalis, der Grenzenlose, der Durchdringer. Er geht die Wege des Windes, ihn kümmern weder Zeit noch Raum. Er ist einer und viele, seine Schaffenskraft ist unendlich, genauso wie seine Zerstörungswut. Er ist das einsamste Wesen, das du dir denken kannst. Und außerdem ist er ein Quellhüter.«
FÜNFTES KAPITEL
HALLE DER SCHLAFENDEN FALKEN
Das Erste, was Babu sah, war seine eigene nackte Brust. Er hatte das Gefühl, als habe jemand ein totes Kalb daraufgelegt, aber auf seiner Haut schimmerte nur das farbige Licht eines nahen Morgens. Er ließ seinen Kopf zur Seite rollen. Da lag sein Hemd, ausgebreitet, da standen seine Stiefel. Etwas weiter, etwas höher: ein heller Fleck. Babu zwinkerte ein paar Mal, dann sah er klar – Juhut.
Der Falke war kaum wiederzuerkennen. Er hatte das graue Jugendgefieder abgeworfen, aber nicht gegen ein braunschwarzes Federkleid getauscht, wie Babu es von den drei Szaslas erinnerte, die mit Asshan und den anderen Falknern ins Lange Tal gekommen waren. Nur Schnabel und Klauen waren dunkel geblieben, ansonsten war Juhut weiß wie Schnee. Er saß auf einer niedrigen Steinsäule und sah Babu an. Mehr geschah nicht.
Und Babu wusste, dass die Unda recht hatte. Das war Juhut, aber das war nicht
sein
Falke, er gehörte ihm nicht. Dieser Vogel war unabhängig, war frei. Dass Babu sich frei
gefühlt
hatte bei den Nogaiyern, dass er geglaubt hatte, am Ende seiner Sehnsucht angekommen zu sein, war eine Illusion gewesen. Der Kreis war noch nicht geschlossen, der Thon war immernoch am Leben … Babu war nicht frei, er war verstrickt. Er war gefangen in seinen Schuldgefühlen, seiner Verliebtheit, seinen Rachegelüsten. Er war ein Szasran ohne Szasla. Denn Juhut konnte das Band zwischen ihnen einfach abschütteln, während Babu gebunden blieb. Er schloss die Augen.
Da spürte er den Schmerz. Massiv, aber dumpf, wie eingepackt in weiches Moos, legte er sich an den wohlbekannten Ort hinter Babus Stirn. Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln über die Schläfen. Ihm wurde übel, er bekam kaum noch Luft. Aber er blieb still liegen und genoss die Qual. Seitdem sie den Vergessenen Steig entlanggewandert waren, den abwesenden Felt in ihrer Mitte, hatte Babu versucht, seine erschütterte Persönlichkeit zusammenzuhalten wie einen Klumpen Lehm, der immer trockener wurde. In einem seltsamen
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