Zwölf Wasser
verwischten Kohlebröckchen, wie eine dunkle Wolke. Oder wie der Rauch eines großen Feuers. Es war Wigos letzte Aufzeichnung, die kein Satz mehrhatte werden wollen. Das, was er notiert hatte im Glauben, alles verstanden zu haben. Felt versuchte, den Anblick des sterbenden Wigo – schweißüberströmt, bleich, mit großen fiebrigen Augen – zurück Richtung Vergessen zu schieben. Es war zwecklos. Er sah ihn unter dem Tuch liegen, am steinernen Ufer des Bachs, dessen Quellhüter verschwunden war und dessen Quelle versiegte.
Helgend betrachtete die Zeichnung lange, blätterte dann einige Seiten zurück und las, seine Augen schienen über die Zeilen zu fliegen.
»Das ist … ich kenne die Handschrift. Er hat das geschrieben … Ihr kennt ihn? Wigo! Das sind seine Aufzeichnungen!«
Felt wollte das Buch wieder an sich nehmen, aber Helgend hielt es fest umklammert. Die Erinnerung an Wigos letzte Stunden kam nun mit Macht zurück – auch er hatte das Buch nicht hergeben wollen. Meins , hatte er gesagt, mein Buch, mein Werk. Er hatte auch gesagt: Ich habe Angst.
»Wigo von Pram«, sagte Helgend leise. »Er war sich nicht sicher, ob sie in Agen zurückkehren würde … oder in Pram.«
Beinahe scheu blickte er zu Felt auf. Felt spürte, wie ein Entsetzen, dessen Ursprung er noch nicht verstand, ihm nach und nach die Muskeln verkrampfte. Er starrte stumm auf den alten Mann hinab, der dies als Aufforderung verstand, das Gesagte genauer zu erläutern.
»Nun da ich weiß, dass Ihr mit ihm bekannt seid, muss ich nicht länger ein Geheimnis hüten … Es kommt ohnehin nicht mehr darauf an, das Unglaubliche geschieht, und Wigo selbst legt, wie es scheint, auch keinen Wert mehr auf meine Verschwiegenheit. Mein Auftrag war: Ich sollte nach Zeichen suchen, nach Hinweisen, ob der Dämon Asing seine Rückkehr in Agen vorbereitet. Wigo selbst ist ja in Pram und stellt dort seine eigenen Nachforschungen an. Er hat überall herumgefragt, müsst Ihr wissen, in allen Weltgegenden beantworten die Gelehrten seine Fragen oder versuchen es zumindest. Doch nur wenigen hat er anvertraut, was er mir gegenüber geäußert hat: dass sie wiederkehrt . Ihr wisst, von wem ich rede, nicht wahr? Ihr wisst von den Dämonen, die uns heimsuchen … und vom Dämon Asing, vom Schlimmsten, was vorstellbar ist. Ihr wisst es von Wigo selbst.« Er hielt kurz das Buch wie einen Beweis hoch, wurde nachdenklicher. »Ihr Welsen habt so gelitten … Die Welsen sind so vernichtend geschlagen worden. Und nun: Ein Welse und eine Unda … das Unglaubliche geschieht, es hat längst begonnen. Kommt der Untergang so schnell?«
Helgends Stimme war brüchig geworden, er blätterte fahrig einige Seiten um, las aber nicht mehr. Felt konnte nur noch steif danebenstehen; das Entsetzen hatte sich wie ein lähmendes Gift in seinem gesamten Körper ausgebreitet – gleich würde es sein Bewusstsein erreichen.
»Dieser letzte Eintrag hier«, fuhr Helgend heiser fort, »diese Linie und diese Punkte, das hat selbstverständlich eine Bedeutung. Aber … Wie kommt Ihr überhaupt an diese Aufzeichnungen? Hat er denn nichts dazu gesagt? Hat Wigo Euch denn nicht … Ach, was ist bloß geschehen?«
Reva fing das Buch auf, das dem Alten aus den Fingern glitt.
»Er ist tot«, sagte sie ohne Umschweife. »Die Wölfe, von denen Ihr gehört habt, Helgend, die gibt es wirklich.«
»Tot? Das kann doch nicht sein! Und ich habe geglaubt, er hätte das Interesse verloren … Ich habe ihm Briefe geschrieben … und keine Antwort bekommen. Er hat mir überhaupt nicht mehr geschrieben, das ganze Solder über nicht! Wie konnte ich nur so dumm sein, so schlecht von ihm denken! Tot!«
Er schlug die Hände vor den Mund.
»Helgend, hört mir zu.«
Reva legte ihm kurz die Hand auf den Arm und der alte Mann starrte sie an, war ganz Ohr, atmete nicht einmal mehr.
»Die Quellen versiegen, Helgend, das Misstrauen zwischen den Menschen wächst. Die Seelen füllen sich mit Bitterkeit. Ihr müsst versuchen, Euch zu wehren. Einen anderen Rat habe ich nicht. Ihr müsst das Gute sehen wollen , Ihr müsst vertrauen wollen , versteht Ihr?«
Helgend nickte. Er schluckte. Dann nahm er das Buch aus den Händen der Unda, vorsichtig, wie eine Kostbarkeit. Mit einem kurzen Blick auf Felt, der wie versteinert dastand, schlug er wieder die letzte, mit der Kritzelei versehene Seite auf. Er schluckte abermals, sein Adamsapfel hüpfte, er kämpfte gegen die Trauer an – und gegen die Reue, den
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