Zyklus der Erdenkinder 05 - Ayla und der Stein des Feuers
und beobachtete, wie Marthona mit dem Wolf umging. »Vielleicht freut er sich ein fach, einen Menschen zu treffen, der überhaupt keine Angst vor ihm hat.«
Als sie in den Schatten unter dem Überhang traten, spürte Ayla sogleich, dass es dort kühler war. Einen Herzschlag lang bekam sie Angst, und es schauderte sie, als sie zu dem riesigen Steinsims hochblickte, der aus der Felswand ragte. Würde es über ihr zusammenbrechen? Als sich aber die Augen an das gedämpfte Licht gewöhnten, erfüllte Jondalars Zuhause sie von neuem mit Staunen. Die Höhlung unter dem Felsen war viel geräumiger, als sie sich das vorgestellt hatte.
Auf dem Weg entlang dem Fluss hatte sie in den Felswänden ähnliche Nischen gesehen. Manche davon waren offensichtlich bewohnt gewesen, aber keine hatte derart geräumig gewirkt. Diese riesige Felsenzuflucht, in der eine große Zahl von Men schen lebte, war in weitem Umkreis bekannt. Die Neunte Höh le war die größte unter den Gemeinschaften, die sich selbst Zelandonii nannten.
Am östlichen Ende der Nische, entlang der rückwärtigen Wand und freistehend zur Mitte hin, waren verschiedene Auf bauten zu sehen. Viele waren recht groß, und sie bestanden teils aus Stein, teils aus hölzernen Rahmen, die mit Tierfellen bespannt waren. Die Felle waren mit schönen Tierdarstellun gen und verschiedenen abstrakten Symbolen in Schwarz und vielen kräftigen Rot-, Gelb- und Brauntönen verziert. Die Auf bauten waren in einem nach Westen weisenden Bogen ange ordnet, um eine freie Fläche herum, die in etwa den Mittel punkt des Raumes bildete.
Als Ayla genauer hinschaute, erkannte sie in dem, was ihr zunächst als ein kunterbunter Wirrwarr von Dingen und Men schen erschienen war, einzelne Abschnitte, die für bestimmte Arbeiten vorgesehen waren, wobei verwandte Bereiche oft nebeneinander lagen. Das Ganze wirkte anfangs nur deshalb unübersichtlich und verwirrend, weil so viele Tätigkeiten gleichzeitig ausgeführt wurden.
Sie sah Tierhäute, die zum Trocknen über Holzrahmen ge breitet waren, und lange Speerschäfte, die offenbar noch gerade gebogen werden mussten und an einer auf zwei Pfosten ruhen den Querstange lehnten. An einer anderen Stelle waren Körbe in verschiedenen Phasen der Fertigstellung aufeinander gesta pelt, und sie sah Lederriemen, die zwischen jeweils zwei Pfosten aus Tierknochen zum Trocknen aufgespannt waren. Lange Seilstränge hingen von Zapfen an Querbalken herab, über noch unvollendeten Netzen, die über einen Rahmen gezogen waren, und locker gewirkten Netzschnüren, die in Bündeln am Boden lagen. An einer Stelle wurden Häute zertrennt, die zum Teil gefärbt waren, unter anderem in vielen verschiedenen Rottö nen, und nicht weit davon hingen Kleidungsstücke, an denen noch dieser oder jener Teil fehlte.
Die meisten Handwerksarbeiten waren Ayla vertraut, aber nahe der Ecke, in der Kleidung angefertigt wurde, entdeckte sie etwas, das ihr völlig fremd war. In einen Rahmen waren viele senkrecht verlaufende dünne Schnüre gespannt, und durch das Material, das waagerecht dazu eingeflochten war, begann ein Muster zu entstehen. Sie wäre gern sofort hinübergegangen, um sich das näher zu betrachten, doch sie nahm sich das für später vor. An anderen Stellen im Raum erblickte sie Gegens tände - Kellen, Löffel, Schüsseln, Zangen, Waffen -, die aus Holz, Stein, Knochen, Geweih und Mammutelfenbein herge stellt und größtenteils mit geschnitzten oder auch aufgemalten Ornamenten verziert waren. Sie entdeckte auch kleine Skulptu ren und Schnitzereien, die sicherlich keine Werkzeuge oder Gebrauchsgegenstände waren, und fragte sich, welchem Zweck sie wohl dienen mochten.
Sie sah große Gestelle mit zahlreichen Querstangen, an denen hoch oben Gemüse und Kräuter und weiter unten Fleischstrei fen zum Trocknen hingen. In einiger Entfernung von allen üb rigen Verrichtungen gab es eine Stelle, die mit scharfkantigen Steinscherben übersät war. Hier arbeiteten vermutlich Feuer steinschläger wie Jondalar, dachte sie, die die Kunst beherrsch ten, aus Feuerstein Werkzeuge, Messer und Speerspitzen anzu fertigen.
Und wohin sie sich auch wandte, sah sie Menschen. Die Ge meinschaft, die hier lebte, war der geräumigen Felsennische entsprechend sehr groß. Ayla war in einem Clan mit weniger als dreißig Mitgliedern aufgewachsen. Bei dem Clan-Miething, das einmal alle sieben Jahre stattfand, kamen für kurze Zeit zweihundert Menschen zusammen, was ihr damals als eine riesige Menge erschienen war.
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