Nervosität wurde zu einer kollektiven Befindlichkeit, für die wir heute – inzwischen an Reizüberflutung gewöhnt – die harmlosere Bezeichnung »Streßreaktionen« haben. Ein anderes Beispiel ist der autoritäre Charakter, den eine von Adorno geleitete Gruppe von Psychologen in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckte (Adorno et al., 1950). Sie interessierten sich für die psychologischen Wurzeln des Antisemitismus und fanden ein ganzes Bündel von damit zusammenhängen Persönlichkeitsmerkmalen, wie Ethnozentrismus, politischen und ökonomischen Konservativismus und antidemokratische Einstellungen. Die Ursache für diesen Charaktertypus sahen sie in einer harten und autoritären Erziehung, bei der elterliche Zuneigung vor allem durch Gehorsam zu erreichen war.
Verändern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, so entsteht ein neuer Sozialcharakter, bereits vorhandene Gefühle, Gewohnheiten und Ideale müssen an die neuen Verhältnisse angepaßt werden. In Zeiten eines schnellen gesellschaftlichen Wandels ist der für eine bestimmte Zeit typische Sozialcharakter nicht der einzige, ja nicht einmal notwendigerweise der häufigste Charaktertyp. Er ist vielmehr der zu der neuen Gesellschaftsformation am besten passende, meistens sehr erfolgreiche und insofern auch für andere wenigstens in den zentralen Merkmalen auf Dauer vorbildhafte Typ.
Soviel zum Holländermichel. Nun mag es ja ein Zufall sein, daß rund 175 Jahre später wiederum Geld und Spiel aus Holland, vielleicht auch schlechte Sitten, kommen: Am 19. 01. 1992 wurde erstmals in Deutschland die Sendung Die Traumhochzeit der holländischen TV-Produktionsgesellschaft John de Mol Produkties B. V. von RTL gesendet (vgl. zum Folgenden Bente & Fromm, 1997; Böhme-Dürr & Sudholt, 2001). Das bis heute geltende Konzept besteht darin, drei kreative und unerwartete Hochzeitsanträge vorzuführen und die sich daraus ergebenden Paare in mehreren Spielrunden gegeneinander antreten zu lassen. Höhepunkt ist der Moment, in dem die Braut des Gewinnerpaares im Brautkleid eine Treppe zu dem unten wartenden Partner herabschreitet. Die Kamera zeigt das Gesicht des häufig von seinen Gefühlen überwältigten Partners in Großaufnahme. Das Paar heiratet anschließend (allerdings nicht rechtsgültig) vor laufender Kamera. Die Moderatorin der Sendung heißt Linda de Mol. Kündigt sich mit ihr etwa wiederum ein neuer Sozialcharakter an?
Bei der Beantwortung dieser Frage helfen die Thesen des großen deutschen Soziologen Max Weber (1965) vom Zusammenhang zwischen calvinistischer Weltanschauung und kapitalistischem Wirtschaftserfolg. Grundlage ist die Lehre von der Gnadenwahl: Der Mensch hat durch den Sündenfall alle Aussicht auf ewige Seligkeit verloren, er ist zum ewigen Tod bestimmt. Zur Offenbarung seiner Herrlichkeit hat Gott allerdings einige Menschen bereits vor ihrem Tod zum ewigen Leben auserwählt. Für den Calvinisten ist daher die zentrale Frage, ob und woran der Einzelne erkennen kann, zu welcher Gruppe er gehört. Die Antwort besteht darin, sich für auserwählt zu halten und jeden Zweifel daran als Anfechtung des Teufels zu interpretieren. Als das beste Mittel, den ständig nagenden Zweifel zu vertreiben, gilt die rastlose Berufsarbeit. Im erfolgreichen Vollzug des beruflichen Handelns zeigt sich dann auch die göttliche Gnadenwahl: Die Qualität des beruflichen Handelns, der Erfolg, macht offenkundig, daß es von Gott gewollt und bewirkt ist. Und nur gottgewirktes Handeln verschafft die Gewißheit, zu den Auserwählten zu zählen. »An Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in reuigem Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, werden so jene selbstgewissen ›Heiligen‹ gezüchtet, die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden«, schreibt Max Weber (1965, S. 129) dazu.
Nun kommt Linda de Mol aus Holland, und Holland ist – neben England und den USA – eines der Länder, in denen der Calvinismus immer eine bedeutende Rolle gespielt hat und bis heute spielt. Entscheidend für das Argument, sie sei die moderne Variante des Holländermichel, ist aber die Tatsache, daß der Calvinismus auch eine ausgeprägte Abneigung gegen die stets etwas unberechenbaren und vom rechten Weg wegführenden menschlichen Gefühle aufweist: »Die puritanische ... Askese arbeitete daran, den Menschen zu befähigen, seine
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