0017 - Das Dämonenauge
Sie schwebte, hätte jubilieren können, singen…
Auf einmal entfernten sich die Gestalten, wurden kleiner und verschwammen.
Jane Collins entfernte sich aus dem Zimmer. Mauern und Wände lösten sich vor ihren Augen auf, waren verschwunden, nicht mehr existent.
Eine andere, niemals zuvor gesehene Welt tat sich vor Jane Collins auf.
Sie durchschwebte einen langen, unendlichen Gang. Die Wände schimmerten pastellfarben, flossen ineinander und bildeten immer neue Muster.
Sie wurde getragen, immer weiter fort. Sie sah plötzlich das Ende des Ganges, konnte weiter schauen und hineinsehen in einen blühenden Garten. Noch nie hatten ihre Augen so etwas Schönes gesehen.
Kristallklare Seen, prächtige Bäume mit ihr unbekannten Blüten, Menschen, die sich versammelt hatten, miteinander sprachen und tanzten. Nie hatte sie so glückliche Leute gesehen.
Jane wollte rasch zu ihnen eilen. Sie bewegte die Beine, hatte jedenfalls das Gefühl, dies zu tun, doch sie trat auf der Stelle. Es sah so aus, als würde sie gegen ein schnell laufendes Fließband anrennen. Sie kam nicht von der Stelle.
Plötzlich löste sich eine weißgekleidete Gestalt aus dem Reigen der tanzenden Menschen. Es war eine Frau. Sie hatte graues Haar und ein feingeschnittenes Gesicht, auf dem ein verklärtes Lächeln lag.
»Mutter!« flüsterte Jane ergriffen.
Sie konnte es nicht glauben. Vor ihr stand ihre Mutter, die vor sechs Jahren gestorben war.
Wie sehr hatte sie damals gelitten. Doch jetzt stand sie glücklich lächelnd vor ihr. Ja, sie war glücklich. Ihre Lippen formten unhörbare Worte. Jane meinte, ihren Namen ablesen zu können. Ihre Mutter rief sie. Warum kam sie denn nicht näher? Sie streckte ihre Hand aus, wollte die Finger der Tochter greifen, um sie hinüber zu ziehen. Wohin?
Ins Jenseits! War dort, wo ihre Mutter stand, das Jenseits? Das Paradies? Der Himmel? Erlebte Jane das, was sie in zahlreichen Büchern gelesen hatte, jetzt selbst? Die Berichte aus dem Jenseits, aus der Dimension zwischen dem Leben und dem Tod? Menschen, die einmal dort waren, wollten nicht mehr zurückkehren. Zu schön, zu phantastisch waren die Eindrücke, die ihnen dort geboten wurden. Das Paradies lockte mit all seiner Pracht. Aber warum schaffe ich es nicht, dorthin zu kommen? fragte sich Jane. Warum geht es nicht weiter? Der Gang ist doch zu Ende. Was hält mich zurück? Jane Collins schaute nach unten. Sie erschrak.
Sie sah direkt vor sich eine gebogene Brücke, die eine unendliche Schlucht überspannte. Eine Schlucht, deren Grund nicht mehr zu erkennen war. Dunkle Nebel wallten dort. Arme und Hände stiegen aus diesem wabernden Brei. Die Nebelschleier wurden durcheinandergewirbelt, verformten sich. Sie bildeten Gesichter, Fratzen und Alptraum-Gestalten. Jane verspürte Angst.
Sie wollte einen Blick in die schöne, herrliche Welt werfen, doch die rückte immer weiter fort. Nur noch klein sah sie ihre Mutter. Sie hatte beide Arme ausgestreckt, als wolle sie ihre Tochter an sich ziehen und wie früher als kleines Kind an ihre Brust drücken. Dann verschwamm das herrliche Paradies. Zurück blieb – das Grauen! Der Nebel schien zu brodeln, bildete Wirbel, die immer höher stiegen, deren Ausläufer Jane Collins umspielten. Als der Schrecken keine Grenzen mehr kannte, sah sie eine Gestalt aus der Nebelsuppe auftauchen. Nein, keine Gestalt, nur ein Gesicht.
Riesengroß, mit einer dunkelbraunen, wie aus Leder gegerbten Haut. Eine breite Nase, ein offener Mund und zwei Augen, aus denen gelbrote Flammenlanzen schossen, an Jane Collins vorbeiglitten und sich hinter ihr vereinigten. Jane Collins konnte sich nicht mehr rühren. Sie war gezwungen, in das Gesicht zu schauen. In eine Fratze, in der die Augen zusammenwuchsen und sich zu einem einzigen vereinigten. Jane Collins sah in das Dämonenauge!
***
Sie wußte nicht, was es mit dem Dämonenauge auf sich hatte, sie starrte nur gebannt in diese riesige Pupille, in der sie Dinge wie auf einem Fernsehschirm sah. Vorgänge und Ereignisse liefen ab. Vergangenes. Zukünftiges.
Letzteres jedoch verschwommen, verwischt. Sie schaute auf Menschen, entdeckte eine Stadt mit hohen Häusern und tiefen Schluchten. New York!
Ein Wagen fuhr durch die Straßen. Pechschwarz. Die Gestalt hinter dem Lenkrad war kaum zu erkennen. Eine dunkle Kapuze verdeckte das Gesicht. Nur die Augenschlitze schimmerten hell. Entsetzt flohen die Menschen vor dem heranrasenden Wagen, auf dessen Dach ein riesiger Sarg stand. Nur ein Mann blieb
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