002 - Der Safe mit dem Rätselschloß
Liste von allen Büchern, die überhaupt je von irgendeinem Professor geschrieben worden sind.«
Ein Gedanke schien ihn zu belustigen, und er lachte zum zweitenmal an diesem Nachmittag.
»Das wird ein großartiger Lesekursus für uns alle«, sagte er vergnügt. »Gott weiß, in welche geheimnisvollen Regionen der gelehrte Professor uns entführen wird. Ich kenne einen, der hat eine Abhandlung über Soziologie geschrieben, die auf zehn Bände angewachsen ist, und einen anderen, der sich über induktive Logik auf zwölfhundert enggedruckten Seiten ausgesprochen hat. Vor mir schwebt ein Bild, wie drei Menschen in einem wüsten Durcheinander gedankenreicher Druckwerke sitzen und in dickleibigen Büchern nach dunklen Anspielungen auf Riegel, Türen, Blätter und so weiter herumsuchen.«
Dieses Phantasiegebilde war zuviel für die Ernsthaftigkeit des Mädchens; mit einem fröhlichen Gelächter über seinen lustigen Einfall begann ihre Freundschaft mit dem Manne, der eingestandenermaßen ein Dieb und wahrscheinlich noch Schlimmeres war.
Jimmy suchte die Papiere zusammen und steckte sie wieder in das rote Kuvert, welches er Angel aushändigte.
»Legen Sie das in die Archive«, sagte er obenhin.
»Warum wollen Sie es nicht hier behalten?« fragte Angel überrascht.
Jimmy ging zu einer der drei hohen Glastüren, die auf einen schmalen Balkon hinausführten. Mit einem raschen Blick überschaute er die Straße, dann winkte er den Detektiv heran.
»Sehen Sie den Mann da?« Er zeigte auf einen Müßiggänger, der auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig herumschlenderte.
»Jawohl.«
Jimmy trat ins Zimmer zurück.
»Deshalb«, sagte er einfach. »Heute oder morgen nacht wird’s hier einen Einbruch geben. Man läßt sich nicht ein Vermögen durch die Finger schlüpfen ohne etliche Anstrengungen, es zu retten.«
»Wer ist › man ‹ ?« fragte das junge Mädchen. »Meinen Sie die schrecklichen Leute, die mich entführt haben?«
»Wohl möglich«, sagte Jimmy, »obgleich ich eben an jemand anders dachte.«
Das junge Mädchen hatte den Mantel angezogen und stand unschlüssig an der Tür; Angel wartete.
»Leben Sie wohl«, sagte sie zögernd. »Ich - ich fürchte, ich habe Ihnen unrecht getan, und - und ich möchte Ihnen danken für alles, was Sie für mich getan haben. Ich weiß - ich fühle, daß ich unfreundlich gewesen bin, und -«
»Sie haben mir kein Unrecht getan«, sagte Jimmy leise. »Ich bin all das, wofür Sie mich hielten - und Schlimmeres.«
Sie reichte ihm die Hand, und er zog sie an seine Lippen, was gar nicht Jimmys Art war.
8
In jenem Teil Nord-Kensingtons, der in der Nähe von Ladbroke Grove liegt, hatte sich ein Fremder durch irgendein Mißgeschick verirrt. Er wanderte durch viele schmucke Straßen und stille Plätze, die den behäbigen Reichtum des oberen Mittelstandes förmlich ausstrahlten, durch breite Alleen, wo blankgeputzte Limousinen an der Auffahrt vor den Häusern warteten und Chauffeure die Wagentüren vor ihren Herrschaften aufrissen. Vielleicht hatte er es nicht besonders eilig, seinen Bestimmungsort zu erreichen. Er kam nach Kensington Park Road, einer breiten Straße mit großen Gärten und kleineren ummauerten Vorgärten; dann bog er in eine Nebenstraße ein, ging noch etwa zwanzig Schritt weiter und befand sich mitten in einem schmutzigen Armenviertel.
Es war kein gewöhnliches Armenviertel, dieses kleine Stückchen London zwischen Westbourne Grove und Kensington Park Road. Es gibt da keine verfallenen Hütten und stinkigen Gäßchen, sondern straßenlange Häuserreihen mit breiten Treppenstufen vor vornehmen Haustüren, mit tiefgelegenen Wirtschaftsräumen, in denen einstmals längst verstorbene Dienstboten dem Mittelstand einer vergangenen Zeit dienten. Die Korridore dieser Häuser haben weder Teppiche noch Läufer, und in manchen teilen sich acht oder neun Familien in die Wohnungen. Schlampige Frauen, die Arme in die schmutzigen Schürzen gewickelt, verbringen in diesen Straßen ihr Leben vor der Haustür.
In die armselige Cawdor-Street, in der das Spitzeln als größtes Verbrechen galt, kam ein Mann und mietete das alleinstehende Haus Nr. 49. Zur Überraschung des Vermittlers vereinbarte er für die Miete monatliche Vorauszahlung, und zur Überraschung der Nachbarn nahm er keine Untermieter auf. Die Möbel kamen bei Nacht, und vergeblich wartete man darauf, die Dame des Hauses zu sehen. Schließlich erfuhren die Leute, daß der »Neue« Junggeselle war.
Vor vielen Jahren
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