0025 - Der Satansdiener
Mauerreste. Die Umrisse verschwammen, alles schien unwirklich und seltsam gestaltlos, als hätten unsichtbare Hände einen silbernen Schleier über den Hügel gebreitet. Nur die kleine Kapelle schwamm weiß und klar im geheimnisvollen Halbdämmer, und an einigen Stellen standen die Mauern dicht zusammen und umschlossen Inseln voller Schwärze und Drohung.
Zamorra verharrte neben einem Stapel durcheinander gewürfelter Bruchsteinquader.
Sein Blick hing an der Armbanduhr, deren Zeiger langsam auf Mitternacht vorrückte. Ohne das phosphoreszierende Zifferblatt aus den Augen zu lassen, rief er sich noch einmal Wort für Wort die Anweisungen ins Gedächtnis, die ihm Alban de Bayard gegeben hatte.
»Komm um Mitternacht auf die Burg der Adler. Wenn du mit dem Amulett vier Mal das Kreuz schlägst, in allen Richtungen der Windrose, und dann einen Stein zu deinen Füßen berührst, wird vor dir das Schloss erstehen, wie es früher war. Geh hinein! Im großen Saal wirst du zwölf Spiegel finden, aber nur einer dieser Spiegel zeigt dir dein Bild. Tritt hindurch! Jenseits des Spiegels beginnt die Welt, in der ich dich erwarte…«
Zamorras Augen wurden schmal und nachdenklich.
Spiegel, dachte er.
Oh ja, es hatte sie gegeben zur Zeit Alban de Bayards. Die Venezianer hatten die Spiegel nicht erfunden, nur vervollkommnet. Sie waren uralt. Spiegel hatte man in ägyptischen und skythischen Gräbern gefunden, sie spielten in Mythen und Märchen ihre Rolle – und uralt war auch ihre magische Bedeutung. Der düstere Zauber des Abbilds, des anderen Ich! Immer wieder im Laufe der Jahrhunderte tauchten Legenden auf von Menschen, die hinter den Spiegeln eine andere Zeit oder eine andere Welt entdeckten. Doch bisher hatte Zamorra in seinen Forschungen nie einen Beweis dafür gefunden und…
Seine Gedanken stockten. Mitternacht…
Der Uhrzeiger sprang um, von irgendwoher wehten die fernen, leisen Schläge eines Glockenspiels herüber. Zamorra atmete tief durch.
Mit einer raschen Bewegung löste er das Amulett von seinem Hals und nahm es in die Rechte. Vier Mal schlug er das Zeichen des Kreuzes, jedes Mal einer anderen Himmelsrichtung zugewandt.
Dann ging er in die Hocke, berührte mit dem silbernen Talisman einen der verwitterten Steinquader zu seinen Füßen und richtete sich wieder auf.
Gebannt starrte er auf den Stein. Täuschte er sich, oder war da ein schwaches Leuchten an der Stelle, wo das Metall des Amuletts ihn berührt hatte? Zamorra presste die Lippen zusammen, sah aufmerksam in die Runde – doch sein Blick kehrte schon nach Sekunden wie unter einem Zwang wieder zu dem alten Gesteinsblock zurück.
Das Leuchten hatte sich verstärkt – jetzt war er ganz sicher.
Und es breitete sich aus, langsam, fließend – als übergieße in einer tropischen Nacht die steigende Flut den Strand mit Silber. Steine erglänzten, Grashalme wogten in dem unwirklichen Licht. Auf seltsame Weise verwob es sich mit dem Mondschein. Reglos, völlig gebannt vom Zauber des Geschehens verfolgte Zamorra das Schauspiel, aber ein Teil seines Gehirns versuchte mit wissenschaftlicher Nüchternheit zu ergründen, worin die Faszination dieser Erscheinung bestand.
Mit dem nächsten Atemzug konnte er es deutlicher erkennen.
Das Mondlicht lag wie ein silberner Schleier über der Hügelkuppe.
Dieses andere, fremdartige Leuchten jedoch schien die Dinge von innen her zu erfassen, ließ sie erglänzen und seltsam gestaltlos werden, als wandle sich ihre Materie in Licht. Mauerreste, Büsche, Gestein – das alles war nur noch verschwimmender Umriss, durchsichtige Hülle, war wie ein trügerisches Spiel aus Licht und Schatten und…
Zamorra hielt den Atem an.
Dicht neben ihm begannen die Mauerreste plötzlich zu wachsen.
Silber übergossene Steine ragten empor, türmten sich höher, schienen sich aus leuchtenden Schleiern zusammenzusetzen. Die Konturen von Gebäuden erschienen, die Umrisse von Türmen, Wehrgängen, Zinnen. Ein Lidschlag, eine Ewigkeit – Zamorra wusste nicht, wie viel Zeit verging, aber als die Wandlung vollendet war, stand wie ein Traumbild aus den Tiefen von Märchen und Legende eine mittelalterliche Burg vor seinen Augen.
Château des Aigles… Die Burg der Adler!
Ein Brunnen plätscherte im Hof. Warmer Fackelschein fiel aus den schmalen Bogenfenstern. Die Räume waren von eigenartigem huschendem Leben erfüllt, leise Stimmen wisperten – und in der nächsten Sekunde klang der hohe, einsame Laut eines fremdartigen Instruments durch
Weitere Kostenlose Bücher