005 - Tagebuch des Grauens
Mit diesem Werkzeug werde ich mich verteidigen.
Schon habe ich mein Ziel erreicht. Ich sehe die großen kahlen Bäume vor mir. Regungslos stehen die Zweige in der kalten, stillen Luft.
Die Pforte quietscht, als ich sie aufstoße. Werde ich die Toten auch nicht aufwecken?
Die Hauptallee liegt vor mir. Unter meinem Fuß ist der Boden weich. Nun muss ich mich nach links wenden.
Doch bevor ich abbiege, sehe ich mich um. Es schien mir, als hätte ich vor mir auf dem Grab eine Bewegung wahrgenommen. Dort sehe ich einen hellen Schatten, wie einen Nebelstreifen.
Plötzlich lässt mich ein teuflisches Gelächter zusammenfahren.
Doch ich will mich nicht zurückhalten lassen. Ich muss weiter.
Auf einem Ast sitzt ein Käuzchen und sieht mich an. Aber ist der dunkle Schatten wirklich ein Käuzchen?
Die Zähne! Da sind sie wieder.
Ich weiche einen Schritt zurück. Dort sind die Zähne – vor einem Grab.
Aber warum bewegen sie sich nicht?
Ich muss es wissen, deshalb trete ich näher. Nein, es sind nur weiße Blüten, die von einem Kranz abgefallen sind.
Vom Eingang des Friedhofs her höre ich ein leises Geräusch. Ist das der Zug der Schatten, der Suzanne hierher geleitet?
Ich verberge mich hinter einem Grabstein. Angespannt lausche ich. Gemurmel ist zu hören. Irgendetwas geht dort hinten vor sich. Schatten steigen über die Mauer hinweg und vereinen sich zu einem makabren Rundtanz.
Mir soll es egal sein. Ich habe eine Aufgabe, die ich erfüllen muss.
Ich bin jetzt nicht mehr weit von Michels Grab entfernt. Jetzt kann ich schon die aufgehäufte Erde daneben sehen.
Mit langsamen Schritten trete ich näher. Irgendetwas fährt über mein Gesicht und raunt mir unverständliche Worte zu.
Ich gehe weiter. Jetzt habe ich das offene Grab erreicht. Ich beuge mich vor und erkenne im Sternenlicht deutlich das matte Holz des Sarges.
Dort ruht Michel, der mich immer noch bedroht und mir nach dem Leben trachtet.
Ich sehe genauer hin. Es scheint mir, als läge der Deckel des Sarges nicht genau auf dem unteren Teil auf, als seien die Schrauben nicht an ihrem Platz.
Ich muss mir Gewissheit verschaffen.
Warum unternimmt Michel nichts? Er weiß doch, dass ich hier bin. Wenn er mich sieht, muss er doch begreifen, was ich vorhabe.
Doch vielleicht kann er nichts tun.
Aber ich kann es.
Ich sehe mich um. Die Gräber liegen verlassen da, doch hier und dort glaube ich eine Bewegung wahrzunehmen.
Die Toten umgeben mich. Ich spüre ihre Nähe. Es sind Tote, die ich nicht kenne.
Ich will mir nicht unnütze Gedanken machen. Es ist besser, wenn ich mich auf Michel konzentriere. Zuerst muss ich feststellen, ob er auch wirklich da unten im Sarg liegt.
Entschlossen springe ich in die Tiefe.
Mit einem lauten Poltern lande ich auf dem Sarg. Es ist so laut, dass ich Angst habe, es könnte bis ins Dorf zu hören sein.
Doch im Dorf wohnen die Lebenden. Sie wissen nichts von dem, was ich inzwischen erfahren habe.
Ich spüre den Sarg unter meinen Fingern. Die Schrauben sind noch fest in ihren Gewinden.
Michel kann seinem Gefängnis nicht entkommen sein.
Trotzdem muss ich Gewissheit haben. Ich werde den Sarg mit der Axt zertrümmern.
Schon unter dem ersten Hieb splittert das Holz. Ich spüre es unter meinen Füßen, weil ich auf dem Deckel stehe.
Ich habe wenig Platz, denn das Grab ist nach den genauen Maßen des Sarges ausgehoben worden.
Unter meinen Axthieben zersplittern die Bretter. Bald kann ich durch die Öffnung hindurch sehen. Hastig reiße ich die Bruchstücke auseinander. Ich kann es gar nicht abwarten, bis ich endlich Gewissheit habe. Der gesamte obere Teil des Sarges ist jetzt zertrümmert.
Dann sehe ich ihn. Michel liegt unter mir, zu meinen Füßen. Sein Gesicht ist verkrampft, und seine Augen stehen offen.
Er sieht mich an.
Aber ich weiß doch genau, dass seine Augen geschlossen waren, als er aufgebahrt war.
Ich kann meinen Blick nicht von dem seinen lösen.
In seinen glasigen Pupillen blitzt es plötzlich auf. Ja, er sieht mich mit wachem Blick an.
Gleich wird er zu sprechen beginnen. Sein Mund! Ja, sein Mund beginnt sich zu bewegen. Es scheint ihm unendlich schwer zu fallen, die Lippen zu bewegen, doch es wird ihm gelingen.
Jetzt sehe ich seine Zähne schimmern, die schrecklichen Zähne, die mir schon so viel Entsetzen eingejagt haben.
Die Lippen bewegen sich. Es ist grauenhaft. Der Angstschweiß tritt mir auf die Stirn.
»Mörder!« flüstert er.
Ich will sie nicht hören, die schaurige Stimme. Es ist mir
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