005 - Tagebuch des Grauens
Dort ist Suzanne. Wenn ich rufe, wird sie mich hören.
Ich nähere mich ihr noch weiter.
»Suzanne!« Meine Stimme tönt durch die Nacht. »Suzanne!«
Mir tut die Kehle weh, so laut schreie ich. Weithin hallt ihr Name durch die Nacht.
»Suzanne!«
Aber sie hört mich nicht. Ich rufe wieder. Unbedingt muss ich sie erreichen. Ich muss den gespenstischen Zug einholen. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.
Schließlich bin ich bis auf wenige Meter herangekommen. Da ist Suzanne, direkt vor mir, und ich bleibe stehen. Sie geht nicht. Ihre Beine bewegen sich nicht. Sie schwebt dahin, ohne die Erde zu berühren.
Die anderen umringen sie. Mein Herz schlägt heftig.
»Suzanne!« rufe ich wieder. Ich sehne mich danach, den Ton meiner Stimme zu hören, den einzig menschlichen Laut in dieser gespenstischen Umgebung.
Fast scheint es mir, als würde sie sich nun langsamer fortbewegen. Sie hat mich vielleicht gehört und zögert nun?
Ja, sie bleibt stehen.
»Suzanne!« rufe ich.
Sie wendet mir das Gesicht zu.
»Suzanne!«
Die anderen sind um sie versammelt. Sie erwarten, dass sie ihren Weg fortsetzt.
Noch einmal wage ich zu hoffen. Doch plötzlich hält mich die körperlose Hand zurück. Direkt vor meinen Augen Streckt sie plötzlich drohend ihre Finger aus.
Wenn ich weitergehe, wird sie mir in die Augen fahren. Ich zögere.
Suzanne hat sich inzwischen wieder in Bewegung gesetzt. Sie folgt den anderen.
Ich muss ihr nachlaufen. Als ich meinen Weg fortsetzen will, legt sich die Hand auf mein Gesicht, schlägt mich gegen die Stirn, auf die Augen.
Ich weiche zurück. Zuerst langsam, dann immer schneller.
Plötzlich spüre ich die Tür des Hauses hinter mir. Die Hand fährt mir ins Gesicht, und ihre Nägel zerkratzen mir die Haut. Der heftige Schmerz lässt mich auf stöhnen.
Ist die Hand immer noch da? Ich sehe nichts mehr. Fast ohnmächtig liege ich auf den Knien.
Ich muss mich wehren. Aber ich sehe nichts mehr. Ich reiße die Augen weit auf, aber undurchdringliche Finsternis umgibt mich.
Ein leichtes Atmen zeigt mir, dass die Hand noch immer da ist.
Weit entfernt höre ich den Chor der Schatten die seltsame Melodie singen.
Es ist vorbei. Jetzt kann ich Suzanne nicht mehr zurückholen. Ich werde sie nie Wiedersehen.
Tiefe Traurigkeit erfüllt mich. Ohne etwas zu sehen, drücke ich die Klinke der Haustür nieder und betrete das Haus.
Wie ein Blinder steige ich die Treppe hinauf und wende mich dem Schlafzimmer zu, in dem ich endlich Ruhe finden will.
Taumelnd erreiche ich das Bett und lasse mich darauf niedersinken.
Ein Schrei entfährt mir.
Ich spüre Suzanne neben mir. Ja, sie ist da!
Ich lege meine Hand auf ihr Herz. Es schlägt nicht mehr. Suzanne ist tot.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, seit ich diese Entdeckung gemacht habe. Noch immer liege ich ausgestreckt im Bett, und neben mir ruht Suzanne, starr und kalt.
Ich habe ihr Gesicht, ihre Hände berührt.
Im Schein der Nachttischlampe kann ich sie sehen. Denn jetzt vermögen meine Augen wieder alles wahrzunehmen. Die Schatten sind verschwunden.
Vermutlich bin ich jetzt nicht mehr in Gefahr. Was sollten die Schatten noch von mir wollen?
Suzanne haben sie mir ja schon entrissen.
Ich selbst zähle nicht.
Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich ja Michel ermordet habe. Und ich weiß, dass er zurückkommen wird.
Er war es, der mich daran gehindert hat, Suzanne weiter zu folgen.
Er war es, der mir als Hand oder Mund erschienen ist.
Und er wird mich auch aufs Neue heimsuchen.
Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich muss zu seinem Grab, ich muss dafür sorgen, dass von ihm nichts mehr übrig bleibt.
Vor allem muss ich seine Zähne und seine Hände vernichten.
Dann kann ich weiterleben.
Ja, das ist die Rettung. Ich muss zum Friedhof gehen.
Es ist drei Uhr morgens. Die Standuhr hat gerade die Stunde geschlagen. Ich höre es sogar hier draußen im Schuppen, wo die Gartenwerkzeuge aufbewahrt werden.
Eine kräftige Axt, das ist es, was ich brauche.
Ich mache mich auf den Weg. Der Himmel ist voller Sterne. Vielleicht ist Suzanne jetzt einer von ihnen. Wohin hat man sie gebracht?
Ich lausche. Jetzt glaube ich wieder die tieftraurige Melodie zu hören, die jene Geister sangen. Ich werde sie nie mehr vergessen können.
Was sind das dort vorn für bleiche Schatten? Nein, nichts ist dort. Es war eine Sinnestäuschung.
Aber vielleicht treffe ich sie auf dem Friedhof wieder. Mit festem Griff umfasse ich den Stiel der Axt.
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