005 - Tagebuch des Grauens
wiederum auf dem Friedhof sein. Dann werde ich der Beerdigung meiner Frau beiwohnen.
Suzanne stellt mir keine Fragen, als ich heimkomme. Ich bereite uns ein leichtes Essen zu, denn sie ist zu schwach, um sich auf den Beinen zu halten. Wie immer isst sie kaum etwas.
Während der Mahlzeit schenkt sie mir keinen Blick. Sie ist in Gedanken versunken. Heute Nacht wird es soweit sein. Ich fürchte mich vor dieser Nacht, in der Suzanne sterben soll.
Kann ich denn gar nichts, überhaupt nichts dagegen tun? Nein. Ich weiß, dass ich das Rad des Schicksals nicht aufhalten kann.
Plötzlich höre ich eine Stimme hinter mir. Ich fahre herum. Die Tür ist verschlossen. Ob Suzanne die Stimme ebenfalls hört?
»Suzanne!« sage ich leise, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Suzanne!«
Sie hört mich nicht. Aber den anderen, den Unsichtbaren scheint sie zu hören. Ich merke es an ihrem angespannten Gesichtsausdruck. Die Augenbrauen sind gerunzelt, und jetzt nickt sie zustimmend.
Was sagt er ihr? Warum hat sie nicht genug Vertrauen zu mir, um mit mir darüber zu sprechen?
Lange halte ich das nicht mehr aus. Ich werde noch verrückt.
Ich bin den ganzen Nachmittag spazieren gegangen. Ziellos bin ich stundenlang über die Felder gelaufen. Dabei habe ich mich immer wieder plötzlich vor dem Friedhof wieder gefunden. Das Verlangen hineinzugehen war fast unwiderstehlich.
Jedes Mal habe ich jedoch der Versuchung widerstanden und bin wieder weggegangen. Doch fast ohne mein Zutun haben mich meine Füße später wieder dorthin getragen.
Ein Gedanke verfolgt mich. Liegt er auch wirklich in diesem Sarg? Ob ich nicht einmal nachsehen soll? Ich brauche ja nur die Schrauben aufzudrehen und den Deckel zu heben.
Nein, das ist nicht nötig. Ich weiß, dass Michel in dem Sarg liegt. Ich spüre, dass er dort drin ist.
Als ich nach Hause kam, wurde es bereits dunkel.
Suzanne saß noch immer in ihrem Sessel. Sie hielt die Augen geschlossen. Ich war überzeugt davon, dass sie sich seit meinem Aufbruch nicht gerührt hatte.
Bei meinem Eintritt öffnete sie die Augen.
»Ach, du bist es?« sagte sie mit leiser Stimme.
»Ja.«
Sie fragte mich nicht, wo ich gewesen sei. Es interessierte sie nichts mehr, was auf dieser Erde geschieht.
Ich bin müde und habe Hunger.
Suzanne sieht mir bei meinen Verrichtungen zu. Ich stelle zwei Teller auf den Tisch. Sie lächelt schwach.
»Nein danke, ich esse heute Abend nichts.«
»Ein bisschen vielleicht.«
»Nein, bestimmt nicht.« Sie schweigt und blickt ins Feuer.
»Es wäre aber doch besser«, sage ich. Gleichzeitig weiß ich, dass es keinen Zweck hat, sie zu drängen.
Schweigend esse ich allein.
Die Wanduhr schlägt die Stunde. Suzanne wirft einen Blick auf das Zifferblatt. Sie seufzt.
Anscheinend weiß sie, um wieviel Uhr sie gehen muss. Zählt sie die Minuten?
Wir werden früh zur Ruhe gehen. Um halb neun.
Suzanne sieht mich an. Es scheint mir, als wolle sie etwas sagen. Ihre Lippen öffnen sich, und zum ersten Mal seit langer Zeit sieht sie mich teilnahmsvoll an.
Gespannt warte ich, was sie mir mitzuteilen hat.
Doch sie sagt nur: »Ich bin müde.«
»Dann geh doch ins Bett.«
Sie wendet sich ab. »Leb wohl.«
Warum sagt sie, leb wohl’? Das hat sie noch nie getan.
Am liebsten möchte ich sie bei den Schultern packen, ihr sagen, dass ich alles weiß, dass ich es nicht zulassen, dass ich kämpfen werde.
Doch ich bin mir meiner Ohnmacht bewusst. Ich kann das Verhängnis nicht aufhalten.
Ich lausche den Atemzügen meiner Frau. Sie sind leicht und regelmäßig.
Suzanne wird sterben. Wie wird es geschehen?
Wird sie leiden, schreien, sich wehren? Oder hat sie sich mit ihrem Los bereits abgefunden?
Auf keinen Fall darf ich heute Nacht einschlafen. Ich will genau wissen, was geschieht.
Jetzt scheint es mir fast, als würde sie nicht mehr atmen. Besorgt greife ich nach ihrem Handgelenk. Doch, der Puls schlägt noch. Er geht allerdings sehr schwach und ist kaum noch wahrnehmbar.
Jetzt sind Schritte zu hören. Was ist das?
Ich stehe auf und gehe hinaus in die Diele. Alles ist still. Ich steige in die Küche hinunter.
Dort ist alles ruhig. Das Feuer brennt langsam nieder. Es scheint mir, als läge etwas in den Flammen. Nein, nichts.
Wieder Schritte. Nun scheinen sie aus dem Schlafzimmer zu kommen. Ich kehre dorthin zurück.
Als ich eintrete, sehe ich Suzanne mit weit geöffneten Augen im Bett liegen. Sie ist völlig regungslos.
Ich stürze zu ihr und lege ihr die Hand
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