0051 - Das Schiff der toten Seelen
es Felsen und Schatten.«
»Gaspard Navarre!« Bill schüttelte den Kopf und ließ die Wasserflasche sinken. »Er war viel jünger, als es in sämtlichen Chroniken steht. Nicole und ich haben sogar seinen Bruder gesehen, kurz bevor er fiel. Raymond Navarre. Ich kann es schon jetzt kaum noch glauben.«
»Weißt du zufällig, was aus Gaspard wird?« fragte Nicole leise.
Ein Schatten flog über Bills Gesicht. »Ich weiß es. Ich hätte auch Herzog Richard von Toul die Zukunft voraussagen können, aber es war besser, es nicht zu tun.«
»Sie werden nicht nach Hause zurückkehren?«
»Nein«, sagte Bill rauh. »Ich kenne die Familiengeschichte, weil sie in eine Erbschaftsauseinandersetzung zwischen Metz und Nancy hineinspielt, über die ich mal Vorlesungen gehalten habe. Volkhart von Toul wird hinterrücks von einem Araber erstochen. Richard und Germain kommen nur bis nach Griechenland, und dort fallen sie zusammen mit Gaspard Navarre einer Cholera-Epidemie zum Opfer.«
»Schrecklich! Ich wünschte…«
Nicole brach ab.
Sie hatten den Kamm der Sandwehe erreicht, sie blickten in die Senke, die sich unter ihnen dehnte – und für einen Moment verschlug das Chaos aus Grauen, Blut und Tod ihnen allen die Sprache.
Zamorra faßte sich als erster.
»Es hilft nichts«, sagte er knapp. »Wir müssen hierbleiben. Da drü- ben zwischen den Felsen gibt es zumindest Schatten…«
Sie schlugen einen Bogen.
Quer zu dem sandigen Hang umgingen sie den Kampfplatz – doch Tod und Verderben schienen allgegenwärtig, ließen sich einfach nicht ignorieren. Ein paar Schakale strichen davon. Verwesungsgeruch hing in der Luft, erst jenseits der Senke konnten sie wieder freier atmen. Erschöpft sank Nicole in den Schatten zwischen den Felsen, und die beiden Männer kauerten sich auf herumliegende Steine.
»Mitternacht«, knurrte Bill. »Ich wünschte, es wäre schon soweit!«
Und nach einer Pause: »Warum, zum Teufel, müssen wir eigentlich ausgerechnet hier warten?«
Zamorra lehnte sich zurück.
Seine Augen wurden schmal. Auch er hatte darüber nachgedacht, schon während der Überfahrt mit dem Schiff. Er ahnte die Antwort – aber selbst ihm kam sie so phantastisch vor, daß er zögerte.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er.
Doch in ihm war wie eine Melodie die Erinnerung an unzählige uralte Sagen lebendig geworden, an die Seelen toter Helden, die ihre letzte Reise antraten, und an die Ritter, die auf der Feeninsel Avalon die ewige Ruhe fanden…
***
Windsbräute rauschten über ein graues, zerrissenes Meer, das nicht von dieser Welt war.
Schwarz ragten die Klippen, unter glänzendem Gefieder hoben sich weiße Leiber ab – Sirenen! Sanft wie Flügelschlag schwebte ihr Gesang durch die Luft, mit rauhem, hungrigem Krächzen gaben die Vögel Antwort. Unruhe hob an. Flüsternd ging die Kunde durch die Dimensionen von Licht und Finsternis. Schatten flogen herbei, tausend Augen glühten im Halbdunkel, und alle suchten, starrten, blickten hinauf zu dem weiten, hellen Tor im Felsgestein, wo eine Gestalt im wehenden Kreuzfahrermantel auf die Stunde der Geister wartete.
»Er ist’s!« flüsterte das Meerwesen, das aus seinem Element tauchte. Grünes Nixenhaar umfloß das bleiche Gesicht und den Schuppenleib. »Er ist es… er wartet …«
»Alban«, wisperte es.
»Alban ist’s! – Alban de Bayard, der sein eigenes Reich verließ, um zu kämpfen, wo er nicht kämpfen durfte…«
Eine mächtige Woge trug die grünen Nixen davon. Glitzernd wiegten sich ihre Leiber, weiße Hände hoben sich aus dem Wasser und winkten. Zwischen den schwarzen Klippen regte es sich, als werde der Felsen selbst lebendig. Erdgeister lugten aus Löchern und Spalten. Bucklige Gnomen, mit dunklen Borkengesichtern und Gliedern wie Wurzelwerk. Gelb glühten die Augen, und wieder flüsterte, wisperte, raunte es.
»Alban ist es?«
»Der mächtige Hüter des Feuerschwerts?«
»Sagt an – was tat er in der Dimension, in die er nicht gehen durfte? – Wie konnte er es? – Wer half ihm? – Sagt an… sagt an …«
»Merlin half ihm«, sang die grüne Nixe.
»Merlin, der Zauberer«, echote von irgendwoher eine Stimme wie feines Glockenklingen.
»Merlin gab ihm Schutz… Der weiße Stern, das geweihte Silber – es gehört zu Merlins Schatz. Aus dem Zauberberg stieg er … Den Unholden gebot er, seine Hand lieh er dem Lichtgeist, damit das Amulett dem Bösen entrissen wurde … Avalon erwachte … Avalon sang für seinen König, seinen Hüter
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