0051 - Das Schiff der toten Seelen
scharf die Luft durch die Zähne zog.
»Sie sind es!« flüsterte er. »Die Vorhut! Das Banner!«
»Navarre!« jubelte gleichzeitig Volkharts Stimme – und Minuten später stieg flatternd die aus einem zerissenen Mantel geschnittene Fahne mit dem Kreuz am Flaggenstag hoch.
Die Männer, die schwankend aus dem Schatten der Hügelfalte in die Sonne traten, schienen nicht sofort zu begreifen.
Sie blieben am Strand stehen, nicht mehr als ein Dutzend, schirmten die Augen mit den Händen und starrten aufs Meer hinaus. Der erste riß jubelnd die Arme hoch, andere Stimmen fielen ein. »Heil, Leonardo!« dröhnte es. »Heil, Herzog Richard…« Und schwankend, stolpernd, in fiebernder Hast stürzten die staubigen, abgerissenen Gestalten auf den Saum des Wassers zu, als sei jeder Fußbreit wichtig, um den sie die Entfernung zwischen sich und dem rettenden Schiff verringerten.
Der Segler drehte aus dem Wind.
Knirschend schlug die Rah um, Geitaue und Gordings holten das Segel ein.
»Laß fallen Anker!« hallte Herzog Richards Stimme über das Wasser – und dann dauerte es nur noch Minuten, bis das Schiff ruhig und friedlich in der Dünung schaukelte.
Volkhart und Germain fierten die Jolle ab.
Sie lachten dabei, winkten den Männern am Strand zu. Selbst Bill und Nicole, die aufgesprungen waren, hatte die jähe, frohe Erregung gepackt. Nur Leonardo war wieder ernst geworden, seine Brauen zogen sich zusammen, und seine Lippen lagen hart aufeinander, als er sich dem Mann auf der Brücke zuwandte.
»Es ist nicht die Vorhut«, rief er. »Ich sehe Gaspard mit dem Banner! Der Rest des Heeres ist es – alle, die noch leben…«
Herzog Richard nickte ernst.
Auch seine Brüder hatten jetzt bemerkt, daß niemand mehr zwischen den Hügeln erschien, daß auch niemand zurücklief, um Wartenden ein Zeichen zu geben. Wie eine auslaufende Woge verebbten Freude und Triumph – und als Germain mit der Jolle zum Strand hinüberruderte, lag eine beklemmende Stille über der Szene.
Zweimal mußte das Boot fahren.
Gaspard Navarre war der letzte, der seinen Platz einnahm. Aufrecht stand er im Bug, das Banner aufgepflanzt, den schmutzigen, blutbefleckten Kreuzfahrermantel um die Schultern – und selbst Nicole, Zamorra und Bill Fleming wurden seltsam angerührt von der düsteren, tragischen Symbolik dieses Anblicks.
Navarre kam auch als letzter an Deck. Bill und Zamorra kannten sein scharfgeschnittenes Gesicht mit der kühnen Adlernase aus Geschichtsbüchern, und es war überraschend zu sehen, wie jung er noch war. Sein Blick glitt über die Männer an Bord, über Bill Fleming und die junge Frau, die mit ihrem kurzen Haarschopf und den engen Cordjeans erschreckend fremdartig auf ihn wirken mußte, und blieb schließlich an Zamorra hängen.
»Wer bist du?« fragte er langsam. »Deine Freunde kenne ich. Wir hielten sie für Spione des Kalifen, als wir sie trafen, und wir haben übel an ihnen gehandelt. – Wer seid ihr?«
Leonardo holte tief Luft.
Er wollte etwas sagen – und atmete aus, als er dem Blick des Professors begegnete. Nur für eine halbe Sekunde sahen sie sich an, dann nickte Leonardo in stummem Einverständnis. Viel war geschehen. Zu viel, um es zu erklären, zu viel vielleicht, um es überhaupt zu begreifen. Richard von Toul schwieg, selbst der junge Volkhart schien von einer seltsamen Scheu davor befallen, das Unerklärliche auszusprechen – und zumindest jetzt, in dieser ohnehin verzweifelten Situation, war es sicher besser, den Mantel des Schweigens über die Dinge zu decken.
»Es sind Freunde«, sagte Leonardo. »Christen wie wir, obwohl sie uns fremd sind! Sie befreiten uns aus der Gefangenschaft Ben Maruts, sie halfen uns, von der Insel zu entkommen.« Er zögerte und blickte Zamorra an. »Fahrt mit uns! Wir werden es schaffen! In Jerusalem seid ihr sicher!«
Der Professor schüttelte den Kopf.
»Wir müssen an Land«, sagte er ruhig. »Wir haben eine Verabredung.«
»Ihr wollt hierbleiben?« fragte Gaspard Navarre erstaunt. »Hier, wo überall Feinde lauern?«
»Wir haben keine Wahl.« Zamorra versuchte gar nicht erst zu erklären, daß sie Alban de Bayards Hilfe brauchten, um ins zwanzigste Jahrhundert zurückkehren zu können. Er sah Leonardo an. »Wirst du uns übersetzen?«
»Wenn ihr es wirklich wollt…«
»Wir wollen es. Unser Ziel ist das Schlachtfeld, der Platz, an dem der letzte Kampf stattgefunden hat. Könnt ihr uns den Weg dorthin beschreiben?«
Die letzten Worte hatte er an Gaspard Navarre
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