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0054 - Wir und der Hellseher

0054 - Wir und der Hellseher

Titel: 0054 - Wir und der Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wir und der Hellseher
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wollte das gute Leben nicht verlieren. Nun, jetzt verliert sie vielleicht den Kopf.«
    »Ein Zirkus muss nicht unbedingt die Gosse sein«, sagte Hamilton. »Zeig mir das Bild noch einmal!«
    Widerwillig reichte ihm Allyn das Blatt. Noch einmal betrachtete der Mann die schlechte Fotografie.
    »Nein«, sagte er dann, leichthin und entschieden zugleich. »Sie hat niemanden umgebrachf.«
    Er blätterte die Zeitung um. Am Ende des spaltenlangen Mordberichtes befand sich das Bild eines Mannes im Abendanzug, der ein hübsches, aber verfettetes Gesicht hatte.
    »Das ist John Cresbyl, nicht wahr!«, sagte Hamilton sofort, ohne die Unterschrift gelesen zu haben.
    »Ja«, brummte sein Neffe.
    Thornwell Hamilton schob die Tasse zur Seite, legte das Blatt flach auf die Decke und hielt den Blick beharrlich auf das Bild gerichtet.
    Steven sah nur den gesenkten Kopf mit den weißen Haaren, ein Stück der Stirn und die buschigen, noch dunklen Augenbrauen, die in dieser Haltung nichts von Hamiltons Augen sehen ließen. Zum ersten Mal fiel es Steven Allyn auf, dass Thornwells Brauen so dicht und noch völlig schwarz waren. Die Stirn hingegen war glatt und bleich wie Elfenbein oder wie polierter Marmor.
    Nach zehn Minuten, in denen sich Allyn nervös eine Zigarette angezündet hatte, hob Thornwell Hamilton den Kopf. Er faltete die Zeitung zusammen und sagte mit einer Stimme, die völlig gleichgültig klang, in der aber gleichzeitig etwas lag, das von sehr weit herzukommen schien.
    »Zwei Männer haben diesen Mann ermordet. Einen von ihnen kann ich nicht deutlich sehen. Der andere hat kurzes krauses Haar und eine Narbe am Kinn, eine rote Narbe.«
    Er reichte dem Neffen die Zeitung über den Tisch. Allyn griff danach. Dabei fiel sein Blick in die Augen seines Onkels. Noch nie hatte er solche Augen bei einem Menschen gesehen. Sie waren tief, dunkel und unergründlich wie Kraterseen und gleichzeitig so blicklos, als wären sie schon tot. Allyn überfröstelte es und er senkte den Blick.
    Eine Sekunde später hörte er Thornwell Hamiltons Stimme.
    »Nimm doch noch ein Stück Kuchen, Junge! Soll ich dir Kaffee nachgießen?«
    ***
    Um sechs Uhr abends stand Allyn an der Theke des kleinen Lokals, in dem er einen guten Teil seiner Abende zu verbringen pflegte. Obwohl er kein großer Trinker war, hatte er gleich mit Whisky angefangen. Er war schlecht gelaunt, ohne zu wissen, warum er es war.
    Jemand schwang sich neben ihn auf einen Barhocker.
    »Hallo, Stev«, grüßte der Besucher. Er hieß Tony Drolbeen und war Reporter bei der New York Look, einer Zeitung, der man nicht besonders viel Niveau nachsagen konnte, und die wahrscheinlich darum gern gelesen wurde. Er und Allyn kannten sich, weil sie sich öfter in diesem Drugstore trafen.
    »Ärger gehabt?«, fragte Drolbeen, der sich etwas auf seine Menschenkenntnis zugutehielt, obwohl es wahrhaftig nicht schwer war, Allyn die Laune am Gesicht abzulesen.
    »Nichts Besonderes. Ich habe nur einen langweiligen Nachmittag mit einem Sonderling von Onkel verbracht.«
    »Ihr Erbonkel?«
    »Hoffentlich! Ich denke, er hat ein paar Dollars für mich in Reserve. Das ist der einzige Grund, aus dem ich ihn besuche. Ich sage Ihnen, Drolbeen, ich würde sonst einen großen Bogen um ihn machen. Er hält sich für einen Hellseher!«
    Der Reporter spitzte die Ohren. »Interessant! Los, erzählen Sie davon, Allyn.«
    »Das ist nicht interessant«, wütete Steven. »Das ist einfach Quatsch. Er hat sich eine Zeit lang unten in der Prärie herumgetrieben als Cowboy. Sie kennen das ja. Wochenlang allein mit einem Haufen dämlicher Rinder, nur den Himmel über sich und flaches, leeres Land um sich. Das ist es, was die Cowboys verrückt macht. Die meisten reagieren ihre Verrücktheit damit ab, dass sie sich sinnlos betrinken, wenn sie mal in eine bewohnte Gegend kommen, Schlägereien anfangen und Bareinrichtungen zu Kleinholz verwandeln. Onkel Ham war nicht von der Sorte. Der blieb noch extra draußen, selbst wenn er einen freien Tag hatte. Und dort muss er sich diese 6 Hellseher-Krankheit zugezogen haben. Es fing damit an, dass er dem einen Cowboy gesagt hat, er solle vorsichtig sein, aber der Bursche war’s nicht, und er fiel vom Pferd und brach sich den Hals. Er warnte seinen Rancher vor einem Freund, und richtig ging der Freund mit des Ranchers Frau auf und davon. Alles solche Geschichten, Drolbeen. Onkel Ham selbst spricht nicht davon, aber meine Mutter war voll von diesen Storys, als sie noch lebte. Schließlich kam

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