0061 - Der Hexenberg
mit den Monstern. Zwei der Riesen mit den vier Armen traten auf sie zu, nahmen sie in ihre Mitte.
»Folge uns!«, blitzte ein Gedanke in ihrem Bewusstsein auf.
Die Aufforderung ›klang‹ beinahe höflich, ja vielleicht sogar ein bisschen ehrerbietig. Und die Gestalten vermieden es, sie zu berühren. Sie traten nur als Geleitpersonen in Erscheinung.
Zusammen mit den Riesen durchschritt Nicole die Lücke in der goldenen Mauer. Sie trat ein in ein bedrückend wirkendes Zauberreich.
Um sie herum erstreckte sich eine Art Garten. Kein Garten im herkömmlichen Sinne. Bäume und Blumen gab es nicht. Statt dessen…
Beete aus blauen und roten Feuern, Teiche, in denen glühende Lava waberte, Ansammlungen von strauchartigen Gebilden, an denen jedoch keine Blätter, sondern anscheinend organische Wesen in widerwärtigen Variationen hingen.
Im Mittelpunkt dieses Höllengartens stand ein Palast von gewaltigen Dimensionen. Es gelang Nicole nicht, die Form des Bauwerks in sich aufzunehmen. Die Konturen verschwammen, wechselten ständig. Mal hatte sie den Eindruck einer mittelalterlichen Trutzburg, dann den eines modernen Wolkenkratzers oder einer mohammedanischen Moschee. Eins jedoch veränderte sich nicht: Die Aura des unvorstellbar Düsteren, die der Palast ausstrahlte wie eine kalte, mitleidlose Sonne.
Ihre beiden Begleiter führten sie durch ein von grünen Dunstschwaden umtobtes Portal in das Innere des satanischen Baus. Es ging lange, hohe Gänge entlang, deren Wände nicht mit Tapeten, sondern mit blutender Haut bespannt zu sein schienen. Gegen eine furchtbare Übelkeit ankämpfend, stolperte Nicole dahin, flankiert von den Riesenwesen.
Die Wanderung endete in einem Raum, der diese Bezeichnung sogar wirklich verdiente. Es gab vier Wände, massiv und nicht laufend die Form verändernd. Auch das Interieur verblüffte sie ungemein.
Es entsprach in jeder Beziehung den verwöhnten Ansprüchen einer Fürstin – kostbar und echt aussehende Stilmöbel, ein riesiges marmorgetäfeltes Bad. Dieses Zimmer wirkte, als sei es komplett aus dem Lustschloss eines französischen Königs nach hier verpflanzt worden.
Die beiden vierarmigen Riesen hatten sich entfernt. Nicole war allein inmitten dieses schwellenden Luxus.
Obgleich sie keine Sekunde vergaß, wo sie sich tatsächlich befand, tat ihr diese Umgebung, die mit ihren normalen Realitätsvorstellungen übereinstimmte, unendlich gut. Die Wahnsinnsbilder und die irrsinnigen Empfindungen, die bisher auf sie eingewirkt hatten, hatten sie mehr als einmal an ihrem Verstand zweifeln lassen.
Aber sie machte sich nichts vor. All dies hier war nur Kulisse. Und dahinter lauerte das unaussprechliche Grauen.
Der Satan selbst!
Sie bemühte sich, nicht daran zu denken, was auf sie zukommen würde. Ihr Blick fiel auf die Kacheln des Badezimmers. Ein Bad, ja, das fehlte ihr. Ihre Begierde, sich den Ekel abzuspülen, wurde übermächtig.
Wenig später saß sie im Wasser. Wasser? Vielleicht, vielleicht auch nicht. In jedem Fall war es eine duftende, wohltemperierte Flüssigkeit, die angenehm auf der Haut prickelte. Unter normalen Umständen hätte sich Nicole pudelwohl gefühlt.
So jedoch…
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst nach geraumer Zeit die Gestalt bemerkte, die das Bad betreten hatte und jetzt neben der voluminösen Marmorwanne stand.
Erschrocken blickte sie hoch. Ihr Herzschlag jagte, beruhigte sich dann aber wieder.
Es war noch nicht der, den sie erwartet hatte.
Es war eine Frau, eine grazile junge Frau, bei der nichts darauf hindeutete, dass es sich nicht um ein normales menschliches Wesen handelte. Ein Mensch wie sie selbst. Und die Frau lächelte – rätselhaft wie Mona Lisa.
»Wer sind Sie?«, fragte Nicole, nachdem sie sich etwas von ihrer Verblüffung erholt hatte.
»Ich bin deine Freundin, kleine Nicole«, lautete die überraschende Antwort.
Die Frau hatte den Gedanken nicht unmittelbar in Nicoles Bewusstsein projiziert, wie es in dieser Welt üblich war, sondern sich der auf Erden gewohnten Mitteilungsart bedient. Sie hatte gesprochen. Nicoles Eindruck, einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, verstärkte sich.
»Sie kennen mich?«, wunderte sich Nicole.
Die Frau nickte lächelnd. »Aber ja! Wir haben uns schon gesehen. Erinnerst du dich nicht?«
»Nein.«
»Oh ja, – ich vergaß…« Die Frau beugte sich vor. Eine unheimliche Änderung ging in ihrem Gesicht vonstatten. Es verlor sein menschliches Aussehen, verwandelte sich in
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