0062 - Guru der Toten
Wyner drehte den Kopf rasch hin und her. Er atmete stoßweise. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell.
»Nein! Nein! Großer Gott…!« Der Pfleger klapperte vor Angst mit den Zähnen.
»Er bewegt sich! Das Böse ist in ihn gefahren! Er erhebt sich!… Himmel, seine toten Augen… Wie sie mich ansehen! Der Satan hat ihn aufgeweckt! Die Hölle gängelt ihn! Er ist eine Marionette des Teufels!…«
Wyner verschluckte sich.
Er hustete und röchelte.
Sein geschockter Geist ließ ihn immer wieder jene grauenvolle Szene erleben, die ihn in der Leichenkammer beinahe um den Verstand gebracht hätte.
»Er kommt auf mich zu… streckt seine Hände nach mir aus… Wie ist das möglich…? Die Wunde ist so tief…! Aaah! Hilfe! Zu Hilfe!«
Harvey Wyner schüttelte sich.
Es hatte den Anschein, als fühlte er sich an der Kehle gepackt. Er krächzte schaurig, schien sich von dem imaginären Würgegriff befreien zu können, schrie noch einmal heulend auf und verstummte dann.
Ich hatte genug gesehen, und ich konnte mir das Grauen vorstellen, dem Harvey Wyner in der Leichenkammer begegnet war.
Ich nickte dem Chefarzt kurz zu. Wir verließen das Zimmer. Dr. Pleshette schloß mit düsterer Miene die Tür hinter sich.
»Schrecklich, nicht wahr?« sagte er heiser. »Der Mann steckt in einer schweren Nervenkrise. Hoffentlich gelingt es uns, ihn wieder auf die Beine zu bringen.«
Wir schritten nebeneinander den Gang entlang.
Ich holte meine Zigaretten aus der Trenchcoattasche und bot dem Chefarzt ein Stäbchen an. Wir rauchten.
»Wenn ich nicht Arzt wäre«, sagte Dr. Pleshette, »würde ich sagen, daß an Wyners Worten etwas dran ist. Chump Geezer scheint tatsächlich vom Satan aufgeweckt worden zu sein.«
Ich war davon überzeugt, daß dies der Fall war. Vielleicht mit einer geringfügigen Einschränkung: es mußte nicht der Satan persönlich gewesen sein, der Chump Geezer von den Toten auferstehen ließ und zum Wiedergänger machte, aber es war gewiß ein Diener des Fürsten der Finsternis.
Möglicherweise wäre ich diesem mysteriösen Ereignis mit mehr Skepsis begegnet, wenn es nicht bereits zwei ähnlich gelagerte Fälle gegeben hätte.
Ein Mann namens Cliff Lynch war mit einer Schrotflinte ermordet worden. Aus nächster Nähe. War sofort tot.
Aber er war nicht tot geblieben. Genau wie Chump Geezer war er wieder aufgestanden, hatte den Mann aufgesucht, der ihn getötet hatte, und hatte sich gerächt…
Oder Jim Dale. Jemand hatte ihn mit einem Rasiermesser umgebracht und bevor es der Polizei gelang, Dales Mörder zu überführen, kehrte das Opfer von den Toten zurück und brachte den Täter um.
Chump Geezer war also kein Einzelfall!
Da gab es jemanden in unserer Stadt, der Mordopfern die Möglichkeit gab, sich an ihren Mördern zu rächen.
Ich heiße Rache weder als Polizeibeamter noch als Mensch gut.
Deshalb mußte es meine Aufgabe sein, Chump Geezer vor seinem Vergeltungsakt zu finden.
Da damit aber nicht die Wurzel des Übels beseitigt war, mußte ich die Person ausfindig machen, deren höllische Kraft ausreichte, um tote Menschen zu Wiedergängern zu machen.
Cliff Lynch und Jim Dale waren, nachdem sie Rache genommen hatten, spurlos verschwunden. Bis zum heutigen Tag waren sie nicht wieder aufgetaucht.
Auch Chump Geezer würde verschwinden, nachdem er gemordet hatte.
Und in ein paar Tagen würde ein neues Mordopfer aufstehen…
Das alles erzählte ich dem staunenden Chefarzt. Lorne Pleshette fuhr sich aufgeregt durch das eisengraue Haar.
»Liebe Güte, Sinclair, wenn das wirklich alles wahr ist, dann ist Chump Geezer jetzt entweder auf dem Weg zu seiner Frau oder auf dem Weg zu deren Liebhaber oder auf dem Weg zu dem Mann, der ihn umgebracht hat.«
Ich nickte. »Der läßt bestimmt nichts anbrennen. Wissen Sie, wo Clips Gazzarra wohnt?«
»Leider nein. Ich kann Ihnen nur mit Mo Geezers Adresse dienen.«
»Her damit«, verlangte ich.
Wir begaben uns in Pleshettes Büro. Ein Anruf des Chefarztes verschaffte mir die gewünschte Anschrift.
Ich rief meinen chinesischen Freund und Partner gleich von Dr. Pleshettes Apparat aus an. Ich wollte Suko bitten, sich irgendwie – und so schnell wie möglich – Clips Gazzarras Adresse zu beschaffen und dann bis auf weiteres ein Auge auf den Mann zu haben.
Aber ich hatte kein Glück.
Suko hob nicht ab.
Enttäuscht legte ich auf. Okay, dann mußte ich die Sache eben allein anpacken. Ich verabschiedete mich von Dr. Pleshette.
Als ich das Krankenhaus
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