0063 - Sandra und ihr zweites Ich
gesehen hatte. Vielleicht war es sogar eine Nachbarin, mit der sie Tür an Tür wohnte. Muriel hatte sich nie um ihre Nachbarn gekümmert.
»Ja?« sagte sie nicht gerade freundlich.
»Mrs. Segovian, nicht wahr?« fragte die Fremde leise. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie so überfalle, aber es geht um meinen Sohn! Könnte ich fünf Minuten mit Ihnen sprechen?«
Muriel zog die Stirn noch stärker in Falten. »Was…«, setzte sie an. Was geht mich Ihr Sohn an? wollte sie fragen, doch das erschien sogar ihr zu unfreundlich. Statt dessen sagte sie: »Kenne ich denn Ihren Sohn?«
Die fremde Frau schlug sich an die Stirn. »Wie dumm von mir!« rief sie aus. »Natürlich! Flint! Larry Flint! Er arbeitet in Ihrer Firma.«
Plötzlich konnte sich Muriel Segovian erinnern. »Ach ja, Sie haben Ihren Sohn einmal in der Firma besucht.« Obwohl sie jetzt wußte, mit wem sie es zu tun hatte, war sie über die Störung nicht erfreut. Trotzdem gab sie den Eingang frei. »Kommen Sie herein, Mrs. Flint!«
»Vielen Dank!« Larrys Mutter schien tatsächlich schwere Sorgen zu haben. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr vergrämtes Gesicht, als sie das Apartment betrat. »Sie sind sehr freundlich. Ich werde mich revanchieren.«
Muriel Segovian achtete zu wenig auf die Worte ihrer Besucherin, sonst wäre ihr der zynische Unterton in diesem Versprechen aufgefallen. Sie führte Mrs. Flint in den Wohnraum, setzte sich und deutete auf einen freien Sessel.
Mrs. Flint blieb stehen und musterte Muriel Segovian mit eisiger Kälte. »Mein Sohn wird von Scotland Yard gesucht, wußten Sie das?« fragte sie scharf.
Muriel schüttelte erstaunt den Kopf. Jetzt endlich erwachte ihr Interesse. »Weshalb?« fragte sie und beugte sich vor.
Mrs. Flint verzog den Mund zu einem abstoßenden Lächeln. »Weil er in Wirklichkeit ein Dämon ist!« flüsterte sie heiser.
Muriel ließ sich zurücksinken. Ihr war, als habe sie eine Leichenhand im Genick gepackt. Sie begann zu zittern und bemühte sich, nicht gellend aufzuschreien. Angst schüttelte sie.
In diesem Moment glaubte Muriel Segovian nichts anderes, als eine Kranke vor sich zu haben. Mrs. Flint mußte verrückt sein!
»Wie schlimm für Ihren Sohn«, sagte sie daher besänftigend. »Kann ich Ihnen helfen? Ich tue es gern!«
Sie mußte Zeit gewinnen, obwohl das auch keinen Sinn hatte. Niemand würde sie besuchen, niemand würde sich um sie kümmern. Sie mußte es selbst schaffen, Mrs. Flint zur Vernunft zu bringen und sie aus ihrem Apartment zu komplimentieren.
Doch Mrs. Flint schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln vertiefte sich. »Sie haben mich falsch verstanden, Mrs. Segovian«, sagte sie sanft. Obwohl sie leise sprach, lag ein gefährlicher Unterton in ihrer Stimme. »Ich bin nicht verrückt. Ich selbst habe Larry ermordet, danach seine Gestalt angenommen und seine Rolle weitergespielt. Oberinspektor Sinclair allerdings hat mich durchschaut. Kein Wunder, er hat Larry Flints Leiche gesehen!«
Nun war Muriel Segovian absolut sicher, es mit einer gefährlichen Kranken zu tun zu haben. Sie wollte aufspringen und gellend um Hilfe rufen, doch das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu und lähmte sie. Reglos blieb sie in ihrem Sessel sitzen.
Es kam noch schlimmer. Vor ihren Augen veränderte sich Mrs. Flint. Aus der unscheinbaren Mittfünfzigerin wurde eine jüngere Frau, ungefähr dreißig, attraktiv, mit langen schwarzen Haaren und großen, schwarzen Augen.
»Sandra Stanwick!« Die Schwarzhaarige nickte ihrem Opfer zu. »So habe ich zu Lebzeiten ausgesehen. Ich zeige Ihnen auch noch meine anderen Gestalten!«
Wieder wandelte sich das Äußere der Besucherin. Die Züge verhärteten sich, Haar- und Augenfarbe änderte sich.
Muriel traute ihren Augen nicht. Sie sah ein bekanntes Gesicht.
»Mr. Flint«, flüsterte sie fassungslos.
Auch der Körper paßte sich dem Gesicht an. Larry Flint stand vor Muriel.
Damit war die Verwandlung noch nicht abgeschlossen. Die Gestalt hob vom Boden ab, bis sie auf halber Höhe zwischen Boden und Zimmerdecke schwebte. Sie schrumpfte, färbte sich schwarz, zeigte ein grauenhaftes Äußere.
Innerhalb weniger Sekunden war aus Larry Flint eine schwarze Marmorstatue geworden.
»Satan«, hauchte Muriel Segovian und sank zu Boden. Sie kauerte auf dem Teppich und streckte der schwebenden Statue abwehrend die Hände entgegen.
»Jawohl, Satan«, ertönte es dumpf, ohne daß sie genau erkannte, woher die Stimme kam. »Satan ist in meiner Gestalt zu dir gekommen! Ich
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