0068 - Die Geisternacht
nicht die Schritte laufender Männer. Die Laute, die an ihr Ohr drangen, waren anders, ganz anders. Es hörte sich an…
Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter. Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Das Entsetzen breitete sich wellenförmig in ihr aus.
Schon einmal war sie mit diesem Schreckensbild konfrontiert worden. Im Hotel!
Ein Jaguar!
Eine blutgierige Bestie, geboren nicht auf natürlichem Wege, sondern geschaffen von einer dämonischen Macht.
Diesem Verfolger würde sie nicht davonlaufen können. Ihre Flucht war sinnlos geworden.
Ergeben blieb sie stehen, jederzeit darauf gefasst, von einem mörderischen Prankenschlag zu Boden gestreckt zu werden.
***
Es war eine lange Nacht gewesen.
Xochicatl, der Oberpriester des Quetzalcoatl-Tempels von Amecameca hatte sich auch weiterhin als aufmerksamer und gefügiger Mensch erwiesen, dessen einziges Bestreben es war, die Wünsche des Sendboten seines Gottes erfüllen zu dürfen. Ohne Zögern hatte er alle Fragen Professor Zamorras beantwortet.
Abgesehen von den Rädern, die Zamorra so entsetzt hatten, gab es in dieser Zeit noch keine Manifestationen von Erkenntnissen des zwanzigsten Jahrhunderts, die den Ablauf der Geschichte zu verändern vermochten. Aber der Professor war sich völlig im klaren darüber, dass dies nur eine Frage der Zeit war. Wenn den Dimensionsreisen der Jünger des Tezcatlipoca nicht sofort Einhalt geboten wurde, war eine völlig anders geartete Entwicklung nicht aufzuhalten.
Die Sache mit den Rädern ließ sich grundsätzlich auch noch hinbiegen. Priester des Quetzalcoatl hatten sie aus dem Tezcatlipoca-Tempel gestohlen und in ihr eigenes Heiligtum gebracht. Die Jünger des Schrecklichen hatten angefangen, mit dem neuen Prinzip zu arbeiten, jedoch blieb ihre Tätigkeit bisher offenbar nur auf ihren eigenen Komplex beschränkt. Xochicatl glaubte nicht, dass die führenden Köpfe der aztekischen Tripplealinanz der Azteken bereits informiert waren. So bestand also berechtigte Hoffnung, dass Ahuitzotl von Tenochtitlan und Nezahualpilli von Texcoco, der zweiten großen Metropole des Reichs, noch nicht daran dachten, ihre kriegerischen Unternehmungen demnächst mit räderbetriebenen Fahrzeugen anzugehen.
Zamorra war es relativ leicht gefallen, den Oberpriester davon zu überzeugen, dass es Quetzalcoatls Wunsch war, das Teufelswerk seines erbitterten Widersachers Tezcatlipoca umgehend zu vernichten. Xochicatl hatte gelobt, die Räder umgehend in den Mittelpunkt eines Feueropfers zu stellen.
Zum Schluss seines von Tizoc Pizana gedolmetschten Dialogs mit dem Weißgewandeten kam er auf sein Hauptanliegen zu sprechen: Die Zerstörung des Tezcatlipoca-Tempels. Wenn der Tempel nicht mehr existierte, würde auch die Nahtstelle zwischen den Dimensionen in Vergessenheit geraten und der Zeitreisespuk hörte auf.
Er wusste, dass es ungeheuer schwer werden würde, diese Idee in die Tat umzusetzen. Die Gefahr war groß, dass Tezcatlipoca und Quetzalcoatl unmittelbar eingreifen würden. Beide waren mächtige Wesen aus dem Zwischenreich, die einander in abgrundtiefem Hass verbunden waren. Es gab viele dieser Hasspaare in der jenseitigen Welt. Halum und Ostra, Ahriman und Ormuzd, Osiris und Seth.
Wenn sie ihre immerwährenden Kämpfe im Diesseits austrugen, dann zitterte die Erde.
Xochicatl war begeistert. Als fanatischer Anhänger seines Gottes war er ein Todfeind Tezcatlipocas. Das war nicht unbedingt typisch für die Menschen seiner Epoche, denn die Völker Mittelamerikas pflegten zahlreiche Götter gleichzeitig zu verehren und ihnen zu opfern.
Im Falle Xochicatls kam allerdings hinzu, dass er ein Chalca war, während die Tezcatlipoca-Priester zu den Azteken gehörten. Die Chalca hassten ihre Besatzer aus tiefster Seele. Die Azteken wiederum knechteten sie auf das Übelste. Dabei taten sich besonders die Priester Tezcatlipocas hervor, die zahllose Bewohner Amecamecas und Chalcas auf dem Opferstein ihres Idols hinschlachteten.
Xochicatl hatte also gleich zwei Motive, den verhassten Tempel auf ein niedrigeres Niveau herunterzustutzen. Als Priester Quetzalcoatls und als Chalca.
Die Gedanken, die er zu diesem Thema entwickelte, interessierten Professor Zamorra sehr.
***
Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung verließen Zamorra und Pizana den Pyramidentempel des Quetzalcoatl. Als sie die breiten Treppenstufen hinunterstiegen, kündigte sich am Horizont bereits die Morgendämmerung an. Es wurde Zeit.
Sie gingen nicht so, wie sie gekommen
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