0070 - Die Brücke ins Jenseits
Zamorra.
Er verließ die Ruine und ging langsam im dunklen Schatten der zerstörten Häuser der Wiener Vorstadt durch die engen Gassen.
Je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurde es ihm. Nur einer konnte ihm den Rückweg zeigen: Omar Namsi.
Er mußte ihn zwingen, ihm den Weg zu weisen.
Ein gefährlicher Schritt, den Zamorra sich in diesem Augenblick vornahm. Aber er mußte ihn wagen…
***
Kara Mustaphas Ratgeber befanden sich beim Großwesir. Sie saßen in seinem großen Zelt auf seidenen Kissen. Der Osmanenführer hatte sie bewirten lassen, und nun verlangte er von ihnen, sie sollten sich anhören, was Omar Namsi nun schon zum x-tenmale vorzubringen hatte.
Namsi stand mit geballten Fäusten trotzig vor Kara Mustapha und dessen Freunden. Sie alle blickten ihn verächtlich an, grinsten unverschämt, betrachteten ihn als den Hofnarren des Großwesirs.
Der türkische Heerführer machte eine herrische Handbewegung und befahl scharf: »Sprich, Omar!«
Namsi verneigte sich tief vor Kara Mustapha und seinen Ratgebern. »Wie ich dir schon des öfteren sagte, erlauchter Feldherr, ist es mir möglich, die verschiedensten Dinge vorauszusehen.«
»Wie stellst du das denn an?« fragte einer aus Kara Mustaphas Freundeskreis höhnisch.
»Ja, wie machst du das?« erkundigte sich ein anderer. »Du mußt es uns lehren!«
Namsi bedachte die vorwitzigen Vögel mit einem grimmigen Blick. Er wandte sich wieder an den Großwesir. »Wir können Wien nicht einnehmen, erhabener Feldherr…«
Kara Mustapha schnitt Namsi mit einer wütenden Handbewegung das Wort ab. »In der Stadt wütet die Ruhr. Der Feind ist geschwächt und ausgeblutet. Der Widerstand der Wiener wird in längstens zwei Tagen gebrochen sein!«
»Ich sage dir, ehrwürdiger Großwesir, es wird anders kommen. Warum glaubst du mir nicht?«
»Weil ich auf das Geschwätz eines vor Angst zitterndes Weibes nichts gebe!« brauste der türkische Feldheer gereizt auf. »Das heiß- umkämpfte Burgravelin – der Zauberfels der Christen – ist uns in die Hände gefallen. Wir stehen nun unmittelbar vor der schon zerborstenen Kurtine. Soll ich jetzt Befehl zum Abrücken geben? Jetzt, wo wir unser Ziel schon fast erreicht haben? Ich sage dir, diese Stadt ist tot. Es gibt nichts mehr, was Wien noch retten könnte.«
»Die Hilfe wird von außen kommen!« sagte Omar Namsi hartnäckig.
Kara Mustaphas Ratgeber lachten. »Niemand ist bereit, den Wienern zu helfen!«
»Es wird ein Entsatzheer kommen…«
»Man sollte Omar Namsi mit einer seidenen Schnur erdrosseln, weil er nicht an den türkischen Sieg glaubt!« rief einer von Kara Mustaphas Freunden. Die anderen stimmten in sein Gelächter ein. Ein Fingerzeig des Großwesirs genügte.
Zwei Wachen kamen.
Kara Mustapha – im prunkvollen Gewand – stellte sich breitbeinig vor Namsi hin. Er stemmte die Fäuste in die Seiten, und sein Gesicht zeigte einen wilden, entschlossenen Ausdruck.
»Wage es ja nicht, mir mit solchen Weissagungen noch einmal unter die Augen zu kommen, Omar!« sagte der Großwesir grimmig.
»Sonst lasse ich dich öffentlich enthaupten!«
Die Wachen warfen Namsi aus Mustaphas Zelt. Der Zauberer fiel in den Dreck, schnellte wutentbrannt wieder hoch und knurrte mit dämonisch funkelnden Augen. »Dann soll das Unheil seinen Lauf nehmen!«
***
Noch in der gleichen Nacht fand sich ein Krisenstab im Wiener Polizeipräsidium zu einer Sitzung ein. Nicole Duval und Bill Fleming mußten den Leuten einen umfassenden Bericht geben. Der Polizeipräsident persönlich entschied, daß die Sache streng geheim gehalten werden mußte. Jede Nachricht, die an die Öffentlichkeit getragen worden wäre, hätte in Wien eine Panik ausgelöst, die ein schlimmes Chaos zur Folge gehabt hätte. Man holte den Bürgermeister aus dem Bett. Die Angelegenheit zog immer weitere. Kreise.
Der Bundeskanzler wurde informiert. Und schließlich wurde Kommissar Haydn mit diesem heiklen Fall betraut. Matthias Haydn war der beste Mann, den der Polizeipräsident zur Verfügung hatte. Ein unscheinbarer Kerl, fünfundvierzig Jahre alt, mit einem onkelhaften Aussehen, hellen Augen und stets nachdenklich herabhängenden Mundwinkeln.
Haydn setzte sich in seinem Büro mit Nicole und Bill noch einmal zusammen. Nachdem es nichts mehr gab, was noch besprochen werden mußte, trommelte der Kommissar seine drei besten Assistenten herbei. Die Männer betraten das Büro ihres Chefs. Haydn stellte ihnen Nicole Duval und Bill Fleming vor, machte sie
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