0078 - Der Todeszug
Schultaschen weg und wollten ins nächste Abteil flüchten. Doch da sprach die Notbremse an, die Suko mit einem heftigen Ruck heruntergerissen hatte.
Die Zugräder quietschten und kreischten, und Funkengarben stoben von den Schienen. Es gab einen heftigen Ruck, und die drei jungen Männer flogen übereinander wie die Kegel. Ich konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten und wurde durchgeschüttelt wie ein Cocktail im Shaker.
Denn der erste Ruck war nicht der letzte. Das Gespenst auf dem Trittbrett war von der Notbremsung überhaupt nicht betroffen. Es stand wie festgenagelt, oder vielmehr es schwebte und klebte an der Zugtür.
Nach dreihundert Metern stand die Lokomotive mit den sechs Personenwagen und dem Gepäckabteil endlich. Das Kreischen und schrille Quietschen der Räder verstummte. In den Abteilen wurde geschrien und geflucht.
Das Gespenst löste sich vom Trittbrett und schwebte knapp über dem Boden davon. Die drei Schüler auf der Plattform bildeten einen wirren Knäuel von Armen und Beinen, aus dem Schmerz- und Schimpfworte gellten.
Suko kam aus dem Abteil, meinen Einsatzkoffer in der Hand. Er rieb sich die linke Schulter, offenbar war er wieder heftig gegen etwas Hartes geprallt.
Ich deutete nach draußen.
»Da, Suko, ein Geist! Wir müssen ihn verfolgen und stellen.«
Ich öffnete die schwere Zugtür, und wir sprangen auf den Schotter des Bahndamms hinunter. Das Gespenst, gut zwei Meter groß, stand zwanzig Meter vor uns in der Dämmerung am Hang vor den niederen Pinien.
Mit seinem Armstumpf wies es nach vorn.
»Höllenhand!« wisperte es in unseren Ohren. »Hütet euch vor der Höllenhand! Ach, ach, ach!«
Wir schauten in die Richtung, und da sahen wir es. Vielleicht fünfzig Meter vor der Lok, die auf einer Gefällestrecke stand, glühte ein düsterer Schein wie der Abglanz der Hölle. Er breitete sich aus, wurde größer als ein Tunnel.
Fahles, düsteres Licht strahlte von ihm in die Dämmerung. Der Lokführer vorn auf der Diesellok streckte den Kopf zum Türfenster heraus, schaute nach vorn und zog ihn gleich wieder zurück. Abteilfenster wurden geöffnet.
Schreckensschreie erfolgten, als die Reisenden das Gespenst am Hang und den glühenden Schein sahen. Aus diesem heraus streckte sich eine riesige Hand mit gespreizten Fingern.
Qualm und Schwefeldunst stieg davon auf. Höllischer Widerschein umgleißte die Hand. Wie Krallen waren die Fingernägel. Langsam streckte die Hand sich vor, um nach der Lok und dem Zug zu fassen.
Meine Blicke rasten von der Höllenhand zu dem Gespenst am Berghang. Die Höllenhand war zweifellos das größere Übel und die weitaus größere Gefahr.
Das Güterzugunglück fiel mir ein. Ich riß die Beretta aus dem Schulterhalfter und das geweihte silberne Kreuz mit den magischen Insignien unterm Hemd hervor.
»Nimm den Silberdolch aus dem Einsatzkoffer, Suko«, sagte ich zu meinem Freund und Partner, »und versuche, das Gespenst zu stellen. Ich bekämpfe die Höllenhand.«
»Das ist die Klaue des Satans!« stieß Suko hervor, der so leicht nicht zu schocken war. »Wenn sie den Zug fassen kann, sind die Folgen fürchterlich. Sie reißt die Insassen mit in die Hölle.«
Das befürchte ich auch.
Ich stürmte vor, und wieder hörte ich das von der Geistererscheinung ausgehende Wispern.
»Nimm dich in acht, John Sinclair! Es ist Asmodis’ Hand! Asmodis’ Hand! Verflucht sei der Tag!«
Ich lief vorwärts. Die Höllenhand hatte sich der Lok bis auf zehn Meter genähert. Sie wollte zupacken, ein feuriger, roter Streifen, in dem es wie Blut leuchtete und pulsierte, führte von ihr zu dem glühenden Dimensionstor zur Hölle.
Aber die Reichweite der Höllenhand war erschöpft. Es langte nicht ganz, um die Lokomotive mit dem vor Schreck gelähmten Lokführer darin und den ganzen Zug zu fassen und mit sich zu reißen. Oder völlig zu zertrümmern wie den Güterzug.
Ein paar Meter fehlten!
Suko hatte mittlerweile das Gespenst am Hang fast erreicht.
»Bleib stehen!« warnte er und hob den Silberdolch. »Wer bist du?«
»Eine arme Seele«, raunte es.
Das Gespenst wurde durchsichtig. Es löste sich auf und verwehte wie ein Nebelstreif. Die eisige Kälte wich, und Suko stand allein. Er hatte keine Zeit, lange zu grübeln, er schaute zu, ob er mir helfen konnte.
Denn ich stand vorn knapp hinter der Lok und beobachtete die wütenden Anstrengungen der Höllenhand, den Zug zu erfassen.
Ich will nicht lügen und behaupten, daß ich keine Angst gehabt hätte.
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