0078 - Der Todeszug
nicht. Ein Geist, ein Gespenst! Wenn du anhältst, sind wir verloren.«
Während des kurzen Gespräches hatte der Zug weitere Meter zurückgelegt, ohne daß der Lokführer bremste. Er schaute schärfer hin. Tatsächlich, ein normaler Mensch konnte diese Erscheinung keinesfalls sein.
Ihre Beine berührten den Schienendamm nicht, jetzt sah es der Lokführer. Ein eisiges Gefühl erfüllte ihn. Wie sollte er sich verhalten? Die Vorschriften sagten eindeutig, daß der Zug zu stoppen war, wenn ein Mensch auf den Gleisen stand.
Aber über Spuk und Geister stand nichts in den Vorschriften.
Der Güterzug raste näher. Die Räder ratterten und stampften, die Dampflokomotive fauchte, und die Pfeife schrillte gellend. Der Lokführer und der Heizer sahen nun deutlich, daß sie keinen Menschen vor sich haben konnten.
So groß, so blaß und so grotesk war kein Mensch von dieser Welt. Aldo Tuzzis linke Hand lag am Griff des Notbremsventils.
Aber Tuzzi betätigte ihn nicht, denn sein Heizer schrie wieder: »Nur nicht bremsen, Aldo, sonst kommt er auf die Lok! Das ist ein Geist, er will uns etwas antun!«
Tuzzi brauchte sich nicht mehr zu entscheiden, ob er bremsen sollte oder nicht, denn die Lok hatte die unheimliche Erscheinung bereits erreicht. Direkt vor dem Kessel warf sie noch einmal die Arme hoch.
Das weiße Gesicht mit den dunklen Augenhöhlen verzerrte sich, der Mund öffnete sich zu einem Schrei. Doch wenn der Geist ihn ausstieß, dann übertönte ihn die Dampfpfeife.
Dann war die Lok über die Stelle weg und hatte damit auch die Steigung überwunden. Die Güterwaggons folgten. Der Geist war verschwunden.
Schweißgebadet standen Lokführer und Heizer im Führerhaus. Der Heizer dachte nicht mehr an seine vom Kaffee durchnäßte Hose. Auch sein Kaffeebecher und die Zigarette lagen am Boden.
»Ein Glück, wir sind den Spuk los, Aldo!« stöhnte er aus tiefstem Herzen. Aber schon im nächsten Moment packte ihn neues Entsetzen. »Aldo, Aldo, da ist er! Links an der Tür! Er will zu uns herein! Aldo! Aldo!«
Der Lokführer schaute zur Seite und schrie gleichfalls auf. Das bleiche Gesicht und die Schultern waren am Fenster der schweren Lokomotivtür zu sehen. Die dunklen Augenhöhlen fixierten die beiden Männer.
Die dunkle Öffnung des Mundes schien Worte zu formen, aber es war nichts zu verstehen. Der Geist schüttelte den Kopf, dann hob er den rechten Arm.
Ein schlimmer Anblick bot sich. Die Hand fehlte. Der Arm endete knapp unterhalb des Handgelenks in einem blutigen Stumpf. Das Gespenst, das sonst so weiß wie Dampf oder kompakter Nebel aussah, hatte einen blutigen Armstumpf.
Es schwenkte ihn hin und her und schüttelte den Kopf.
»Aldo! Aldo!« kreischte der Heizer. »Es kommt zu uns herein! Unternimm doch etwas!«
»Hör auf zu schlottern, du Feigling!« fuhr der Lokführer den Heizer an. »Nimm den Dampfschlauch, darin öffne das Fenster und gib ihm Saures! Na los doch, beeil dich!«
»Ich kann nicht, Aldo!«
»Du mußt!«
Der Lokführer fügte einen lästerlichen Fluch hinzu. Er wußte nicht, ob der heiße Dampf etwas gegen den unheimlichen Beifahrer nutzen würde. Aber Aldo Tuzzi wollte es zumindestens versuchen.
Denn eine eisige Kälte kroch in das Führerhaus der Lok, in dem es zuvor stickig heiß gewesen war. Die Kälte strahlte von der Geistererscheinung aus.
Mit zitternden Händen packte der Heizer den Schlauch mit der Düse am Ende. Er war an ein Druckventil angeschlossen und diente dazu, entweder Wasser aus den Rohren abzulassen oder Heißdampf auszublasen.
Der Heizer drehte das Dampfventil auf. Er faßte die Düse, spürte wie der Schlauch sich straffte, als der kochend heiße Wasserdampf hineinschoß. Doch noch war die Düse geschlossen.
»Ich… ich traue mich nicht!« jammerte der Heizer.
Der Lokführer fluchte, sandte dann ein Stoßgebet zum Himmel. Er wollte seinen unheimlichen Beifahrer, der sich immer wilder und verzweifelter gebärdete, auf jeden Fall loswerden. Er stellte die automatische Steuerung ein und ging entschlossen ans Fenster.
Mit einem Ruck riß er es herunter. Der Fahrtwind fauchte herein und brachte eine Kälte wie vom Nordpol. Der Lokführer starrte in das weiße Gesicht mit den undeutlich erkennbaren Konturen und dem aufgerissenen Mund.
Durch den Lärm der Kolbenmaschine und der Räder, durch das Rattern, Dröhnen und Fauchen und das Gellen der Dampfpfeife hörte Aldo Tuzzi es wie ein leises Wispern.
»Anhalten! Anhalten! Nicht weiter! Gefahr!«
Der Geist
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