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008 - Der schlafende König

008 - Der schlafende König

Titel: 008 - Der schlafende König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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anlegte, musste einen harten Schädel haben, denn auch ihre Handschuhe waren aus Blech und konnten mörderische Hiebe verteilen.
    Sepp schmiegte sich fest an die Mauer, hielt den Atem an und richtete seine Spitzohren auf. Kein Zweifel, genau hinter dem steinernen Wall bewegten sich die Schritte eines Wächters. Vor Aufregung traten Schweißtröpfli auf Sepps Stirn. Er lauschte dem dumpfen Wummern seines Herzens und verwünschte die Großmäuligkeit, mit der er seinen Onkeln heute Morgen auf die Frage geantwortet hatte, ob er mutig genug sei, in dem Tempel des Feindes einzudringen und ihm wichtige Informationen zu entlocken. Zum Beispiel, ob die Broglianer schon wussten, dass ihre letzte Expedition gen Süden den Steppenguulen in die Klauen gefallen war.
    Schon der Gedanke an die Guule führte dazu, dass Sepp sich beinahe erbrochen hätte. Aber er riss sich zusammen. Er war nicht hier, um sich durch obszöne Geräusche zu verraten und erwischen zu lassen. Er war hier, um den Grauen Eminenzen zu dienen, denn sie hatten ihm ihn Aussicht gestellt, ihn zum Oberspion zu befördern, wenn er diesen Auftrag erledigte.
    Außerdem war er hier, um alles nicht Niet und Nagelfeste in den 164 Geheimtaschen seines Umhangs verschwinden zu lassen. Sepp litt nämlich an einer peinlichen Krankheit, von der zum Glück niemand wusste: Täglich überfiel ihn mehrmals ein quälender Juckreiz im Afterbereich, den er nur lindern konnte, wenn er etwas an sich nahm, das ihm nicht gehörte. Da er den ganzen heutigen Tag über allein gewesen war und keine Gelegenheit gehabt hatte, diesem mysteriösen Trieb nachzugehen, brachte das penetrante Jucken ihn allmählich um.
    Als er hörte, dass die Schritte des Wächters sich entfernten, huschte er wie ein Schatten an der Steinmauer entlang und erreichte jene Stelle, an der sie durch ein Tor unterbrochen wurde. Das Tor bestand aus glatten, vor ihm aufragenden Eisengitterstäben, die am oben Ende in schreckliche Lanzenspitzen ausliefen. Sepp warf einen Blick durch das Gitter. Er erspähte Gestrüpp und Gesträuch und zwei Hünengestalten. Sie trugen Sandalen, grünweißkarierte Kilts, Helme und silberne Brustpanzer und standen vor der breiten Marmortreppe, die in den Tempel hineinführte. Zudem trugen sie blitzende Schwerter, und an ihren Gurten hingen die überall gefürchteten Wümmlis, vor denen man sich tunlichst in Acht nahm.
    Der Tempel hinter ihnen war dunkel und still, doch Sepp wusste, dass der Eindruck täuschte.
    Zweifellos gingen die Hohepriester der Broglianer hinter dem finsteren Mauerwerk abscheulichen Ritualen nach, beschworen ihren schlafenden König und warteten auf sein Erwachen, damit er, wie die Verkündung besagte, »herrschte auf Erden über alle Menschen und jegliches Gewürm«.
    Wann dieser Tag sein sollte, an dem der schlafende König erwachte, war den Grauen Eminenzen nicht bekannt, aber man nahm an, dass er nicht mehr fern lag. In den letzten Wochen waren die ohnehin recht hochnäsig auftretenden Ordensbrüder nämlich noch aufgeblasener durch die Straßen von Züri marschiert. Man konnte also mit Fug und Recht erwarten, dass sich in naher Zukunft etwas tun würde.
    Die Grauen Eminenzen glaubten freilich nicht, dass der schlafende König überhaupt existierte. Für sie war er nur ein Popanz, den die Broglianer erfunden hatten, um sich wichtig zu tun. Mit der Behauptung, sie seien die Garde des Königs aller Könige, wollten sie ihren Herrschaftsanspruch über das Kantoyn wahrscheinlich nur festigen. Außerdem hatte keiner der gelegentlich aus dem Gebirge ins flache Land einwandernden Schamanen je etwas von einem schlafenden König gehört.
    Sepp neigte dazu, den Grauen Eminenzen zuzustimmen, denn sie waren alt und klug und weise. Er neigte überhaupt dazu, alle gegenwärtig populären Ansichten und Meinungen zu teilen, was damit zu tun hatte, dass sein eigenes Wissen nicht sehr berühmt war und man immer am besten fuhr, wenn man den Mächtigen nach dem Mund redete.
    Aus diesem Grund war er auch bereit gewesen, das Himmelfahrtskommando mutterseelenallein durchzuführen: Wäre ein Gefährte an seiner Seite gewesen, wäre allzu schnell ans Licht gekommen, dass er eigentlich gar nicht wusste, wie' er in den Tempel eindringen sollte, über dessen Tor er gerade mal sein Näsli schieben konnte. Die lanzenspitzen Gitter jagten ihm Panik ein. Wie sollte er da rüberkommen?
    Urplötzlich schepperte es in seinem Rücken. Sepps Hände rutschten von den Stangen ab, und er verlor die

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